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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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dem kleinen Handy zu, das ihm diese Nachricht immer und immer wieder vorlas, während er auf die Straße hinaustrat, die in der Nachmittagssonne ganz still geworden war. Das einzige Geräusch war eine körperlose Stimme, die in einer unverständlichen Sprache aus einer Gegensprechanlage quakte. Es klang fast so, als rezitiere sie irgendeine historische Wahlkampfrede.
    Walter ging lange spazieren.
    Als sein Handy läutete, ging er nicht ran. Er bog um eine Ecke und tauschte die ruhige, kontemplative Straße gegen eine lautere ein. Mit einer Hand löschte er Colins Namen aus dem Nummernspeicher.
    Namen, dachte Walter. All die Namen.
    –
Eintrag wirklich löschen? OK/NO
, fragte das besorgte Telefon, das ahnte, wie groß die bevorstehende Veränderung war.
    Walter ließ seinen Finger auf der Taste behutsam schwerer und immer schwerer werden, so lange, bis sie sich wie von selbst drückte und dieses Kapitel beschloss.

Preis der Jury
    Dann
– ein Wort wie ein Trommelschlag, einer der unendlich vielen Ruhepunkte von Zenons berühmtem Pfeil: Dann geschah etwas sehr Merkwürdiges. Eine Jury hatte aus vielen hundert Beiträgen für Maturazeitungen ausgerechnet die Einleitungsworte meines Vaters
An das Komitee für Zukunft / Geheimabteilung B
als beste Abschlussrede des Jahres gekürt – und Professor Kerfuchs, der seit beinahe zehn Jahren Französisch und Physik an einem Gymnasium unterrichtete, war darüber empört, ja sogar zutiefst gekränkt. Niemand konnte sich sein Verhalten erklären. Seit einer Woche war er nun schon im Krankenstand. Seine Vertretung übernahm eine junge Kollegin. Er schloss sich unterdessen in seinem Zimmer ein und ordnete stundenlang irgendwelche Zettel.
    Irgendwann kam er heraus, als wäre nichts gewesen, setzte sich zu uns an den Tisch, las uns die holprige, freundliche Preisbegründung vor und verbrannte sie hinterher. Das Papier wurde zuerst an den Rändern braun, faltete sich und fiel zusammen, bildete eine kleine Faust aus Asche.
    – Ich werde nicht mehr zurückgehen, sagte er. Ich kann nicht mehr im Klassenzimmer stehen.
    – Warum nicht?, fragte meine Mutter.
    – Es geht einfach nicht, sagte mein Vater und legte sich eine Hand auf den Rücken, als er von seinem Sessel aufstand.
    Den Rest des Tages verbrachte er in dem Blättergeraschel, das aus seinem Arbeitszimmer drang.
    In den ersten Jahren war er noch so klug gewesen, nur einen halben Lehrauftrag zu übernehmen, aber dann kamen sehr bald die dunklen Jahre der Vollbeschäftigung. Er stellte sein Hobby, das Schreiben und das Konzipieren von Musicals, vollkommen zurück, verkündete, dass er ein, zwei Jahre Pause machen wolle. Schließlich müsse man auch einmal an die Familie denken. Und er hielt dieses Gelübde auch tatsächlich durch – und fand nie wieder richtig zu seinen alten leidenschaftlichen Irrfahrten auf dem Papier zurück.
    Dann kam die plötzliche Anerkennung für seine Abschlussrede. Man gratulierte ihm. Und er zog sich zurück und arbeitete mehr an dem Riss als je zuvor.
    Früher hatte er in die Gesichter seiner Schüler geblickt, in eine leuchtende Tastatur von Ausdruckslosigkeit, und hatte nur Wissenslücken, Herausforderungen, formbare Geister, junge Menschen auf einer spannenden Reise gesehen, auf einem subtilen Abenteuer von Sinnsuche, Selbstfindung und Identitätsentwicklung. Heute sah er in diesen Gesichtern nur noch den Tod.
    Wenn er Hefte korrigiere, erklärte er meiner Mutter, überkomme ihn manchmal die entsetzliche Angst, sein Herz könnte stehen bleiben,
mitten im Stapel
. Etwa beim Buchstaben L. L wie Linquist, Leitner, Leitgeb, Lachner, LaBionda. Er zählte die Namen seiner Schüler auf, die mit L begannen.
    – Ist es nicht entsetzlich, dass ich so etwas auswendig weiß?, sagte er.

    – Wie kannst du nur so lange ohne Unterbrechung reden? Ohne zu wissen, dass dir überhaupt jemand zuhört?
    Lydias besorgtes Gesicht taucht wieder ab, und der Rahmen der Zimmertür ist weiß und leer. Ich höre sie im Nebenzimmer in irgendwelchen Dingen kramen.
Wie kannst du nur so lange
. Sie weiß nicht, dass der Satz eine Falltür war.
    – Weiß nicht, rufe ich. Wahrscheinlich Erbmasse.
    Ein glücklicher Abend vor langer Zeit. Mein Vater bringt uns alle zum Lachen, erzählt heitere Geschichten, von seinem ersten Fahrrad-Unfall, während er einen Korb voll Gemüse über eine Landstraße transportiert. Davon rollende Kohlköpfe, ein Eisbergsalat, der im Schnee stecken bleibt.
    Er spielte oft ein Spiel mit mir, das

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