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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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hieß
Ross-Biss
. Damals schrieb man beides noch mit ß und entsprechend gleißender waren die Worte. Das Spiel bestand darin, dass wir uns Auge in Auge gegenübersaßen und seine Hände versuchten, mich in die Knie zu zwicken. Ich war entsetzlich kitzlig und tat alles, um seine blitzschnellen Attacken abzuwehren. Die Regel des Spiels lautete: Ein Angriff und eine Abwehr, dann von vorne. Wenn er mich erwischte, quietschte ich und fiel fast vom Sessel.
    Wenn er in Fahrt kam, sagte meine Mutter zu ihm:
    – Ich könnte nicht so lange einfach drauflos erzählen … Wie machst du das?
    Er schmückte seine Geschichten von Zuhause oft wunderbar aus. Und manchmal schlichen sich in eine witzige Handlung Requisiten, die etwas Trauriges und Mysteriöses an sich hatten, ein mit einem weißen Leintuch abgedeckter Vogelkäfig auf dem Dachboden oder ein kaputter Kompass, den er einmal in einem Fußstapfen gefunden hatte.
    Dann, auf einmal sehr ernst, begann er davon zu erzählen, wie er eines Tages, während eine Kuh auf dem Hof seiner Eltern
in den Wehen
lag und schrecklich brüllte, über die Wiese gegangen war. Er war ganz allein, wie immer, wenn Kühe in den Wehen lagen, und er trat mit seinen Schuhen in Maulwurfshügel und sprach laut mit sich selbst. Da plötzlich begann er zu fliegen.
    Meine Mutter veränderte ihre Sitzposition ein wenig, als sie das hörte. Sie richtete sich auf und ihr Blick suchte den meinen. Er verwandelte sich vor unseren Augen von einem amüsierten zu einem leidenschaftlichen Erzähler.
    Er habe, so erzählte er, und seine Finger wurden zu flatternden Empfangsantennen, zuerst gar nicht glauben können, was ihm da geschah, dann habe er mit den Armen geflattert und es wieder gelassen, denn es sei gar nicht an den Armen gelegen, nein, er flog einfach drauflos, wie an einer unsichtbaren Schnur hochgezogen. Zuerst habe er natürlich Angst bekommen, dann habe er versucht, sich frei fallen zu lassen, in den Wind, der mit ihm spielte und ihn im Kreis herumwirbelte. Er war ein Herbstblatt, ein von Luftströmungen gefangenes Papierflugzeug, eine wirbelnde Schneeflocke. Er habe versucht, sich zu orientieren, vielleicht war alles am Ende nur ein Schwindelanfall, wie er es schon seit seiner Kindheit kannte, diese plötzlichen Attacken, die wie aus dem Nichts kamen, in denen einem der Boden unter den Füßen schwand und man fiel, gleichzeitig stieg, sich festhielt an seiner eigenen Kleidung, was aber nichts nützte. Aber diesmal sei es etwas anderes gewesen, er habe sich weit, bestimmt an die zwanzig Meter über dem Erdboden befunden, strampelnd und nirgends anstoßend, und es habe ihn zu seinem Entsetzen immer weiter in die Höhe gehoben. Die Wolken, die bedrohlich näher kamen, seien das erstegewesen, was ihm eine Ahnung von seinem nahen Tod eingegeben hatte, und er habe versucht zu schreien, er habe mit winziger Stimme um Hilfe geschrieen, aber natürlich habe ihn niemand hören können, weil alle um die klagende Mutterkuh versammelt waren und ihre Arme – er habe das nie wieder vergessen können – bis zum Ellbogen in ihr versenkt hatten. So wurde er tatsächlich einige Kilometer weit davongewirbelt und auf irgendeiner fremden Wiese vor einem fremden Gehöft ins Gras gesetzt, sodass er sich den linken Knöchel verstauchte, und –
    Meine Mutter war aufgestanden, hielt meinen Vater am Knie, er schaute zu ihr auf. Sie schlug vor, in die Küche zu gehen, vielleicht etwas essen, nur eine Kleinigkeit.
    – Du hast ja den ganzen Tag gearbeitet, du vergisst immer zu essen, sagte sie lachend.
    Aus seiner Geschichte gerissen, starrte er sie entgeistert an.
    – Ich kann schon gut auf mich selbst aufpassen, murmelte er. Ich weiß, wann ich esse und wann nicht.
    Stille. Ich stand auf.
    – Komm, setz dich wieder hin, sagte mein Vater.
    Es war eine unsinnige Bitte, so etwas hatte er noch nie von mir verlangt. Ich ignorierte sie und ging aus dem Zimmer. Im Nacken fühlte ich, wie sein Blick mir folgte, mich an den Schultern zurückhalten wollte.
    Wenig später sah ich ihn und meine Mutter in der Küche sitzen. Sie plauderten über irgendetwas Belangloses, meine Mutter erzählte einen Witz. In der Hand hielt sie ein Joghurt, mit dem sie meinen Vater fütterte. Dicke weiße Tropfen fielen vom Löffel zurück in den Becher. Hin und wieder kostete sie selbst davon, nur damit er nicht merkte, was mit ihm geschah.
    Später musste sie ihm dabei helfen, von seinem Sessel aufzustehen.
    Nachdem mein Vater den Lehrberuf ganz

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