Die Frequenzen
aufgegeben hatte, fuhren wir im Sommer zu meinen Großeltern. Im Haus meiner Großeltern gab es einen unbetretbaren Treppenaufgang, der mit einem Band abgesperrt war, das zu einer schwarzen Schleife verschnürt war. Ich freute mich auf diesen Treppenaufgang und seine Schleife, denn vielleicht würde ich dieses Mal mutig genug sein, hinaufzugehen und zu sehen, was sich im geheimnisvollen dritten Stock befand. Diese Hoffnung hatte ich selbst dann noch, als man mir erklärte, dass es dort nur zum Dachboden ging.
Am liebsten hatte ich meinen Großvater, den personifizierten Schaukelstuhl. Sein Leben fand fast ausschließlich in der Z-förmigen Sitzposition statt. Nicht dass er etwa gar nicht oder nur schwer gehen konnte, er ging ohne Probleme überallhin, auf die Toilette, an die Tür, wenn es klingelte, oder zum Fernseher, um das Programm umzuschalten (eine Fernbedienung existierte zwar, aber es war noch nicht ins Bewusstsein meiner Großeltern übergegangen, wozu sie gut war, und so wartete das kleine, schwarze Ding auf einem Fenstersims auf seinen Einsatz und setzte Staub an), aber sonst saß er im Grunde nur herum, und Gelegenheiten dazu gab es viele: Sitzbänke vor dem Haus und auf der Veranda, Küchen-, Wohnzimmer- und Balkonsessel, Gartenmöbel (Stühle wie abstrakte weiße Elefanten), eine Hollywoodschaukel (die streng genommen gar keine Schaukel mehr war, sondern eine steife, knarrende Erinnerung daran), eine Kloschüssel, ein Bidet, ein langes Sofa, das direkt auf den Fernseher blickte, und ein kleineres, das im rechten Winkel dazu stand, und diverseHocker (besetzt von Blumentöpfen und Stapeln alter Zeitungen). Mein Großvater konnte nur schwer dazu gebracht werden, sich hinzulegen. Wenn er es einmal tat, weil er krank war oder dem Drängen meiner Großmutter nachgab, sah man auch, warum. Er wirkte auf sonderbar vervielfachte Weise erlegt und hilflos, so wie ein auf den Rücken gedrehter Käfer auf dem Bauch einer auf den Rücken gedrehten Schildkröte. Es hatte einige Versuche gegeben, ihn zum Liegen zu verführen: auf dem Sofa erschienen über Nacht plötzlich hübsche, kleine Plüschpolster, eine weiche Decke legte sich über die Holzbretter der Verandabank, und zwischen zwei besonders kräftigen Baumstämmen im Garten grinste eine weiße Hängematte, die sich im Wind hin und her wiegte wie eine geheimnisvoll winkende Jungfrau.
Aber er hatte allem widerstanden.
Nur wenn er saß, war er wirklich er selbst, dann sah er so zufrieden aus wie ein Frosch, der seine Backen aufblies. Zudem war er das seltene Beispiel eines Menschen, der tatsächlich den Eindruck vermittelte, dass er etwas
tat
, wenn er still irgendwo saß, so wie manche Leute bis in die Haarspitzen hinein beschäftigt zu sein scheinen, wenn sie eine Zigarette rauchen oder mit einer Hand in der Hosentasche ein langes Bücherregal abschreiten.
Meine Großmutter schimpfte mit ihm und befahl ihm alle möglichen Dinge, aber er verhielt sich immer hartnäckig und war störrisch wie ein altes, verrostetes Garagentor. Wenn er nach ihr rief, reagierte sie eine ganze Weile nicht, sondern sprach mit ihm wie mit einem klingelnden Telefon:
Nur die Ruhe, bin ja schon unterwegs, schon gut, schon gut
. Mein Vater kam mit ihr nicht aus, da sie selbst früher Volksschullehrerin gewesen war. Wenn sie mir etwas erklärte, sprach sie immer mit meinem Bauchnabel.Sie war es gewohnt, mit kleinen Menschen zu sprechen, die nicht das Geringste von dem verstanden, was sie sagte. Ihr Haar trug sie in dem speziellen Lehrerinnen-Kurzhaarschnitt, der sagte:
Ich kann auf alle gängigen Schönheitsmerkmale verzichten, denn sie würden die jungen Burschen nur verwirren. Aber ich bin immer noch eine Frau
. Um den Hals trug sie einen Strauß Seidentücher in Herbstfarben. Wenn irgendetwas im Haushalt zerbrach, etwa ein Teller oder eines der Weingläser, die ich aus Langeweile versucht hatte zu zersingen, ließ sie einen kurzen spitzen Schrei los, der unerhörte Ähnlichkeit mit dem Ruf des nacktkehligen Glockenvogels (
Procnias nudicollis
) hatte.
Die weitaus unangenehmste Person im Haus meiner Großeltern war eine Tante, die von Beruf Hospizschwester war und mit ihrer Abgeklärtheit in allem, was Leiden, Krankheit und Tod betraf, jedem unheimlich auf die Nerven ging. In ihrer Gegenwart hatte man das Gefühl, selbst den unabwendbaren Tod der Sonne (irgendwann in vielen Millionen Jahren) viel zu persönlich zu nehmen. Sie war eine Frau, die imstande war, eine offene Schürfwunde
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