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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Walter einen bigotten Provinzclown. Wenig später begann er mit intensivem Klavierunterricht. Das Instrument sei in seinem Studium ohnehin ein Pflichtgegenstand, erklärte er, also könne er es ebenso gut gleich ordentlich lernen. Außerdemerteilte ihm eine japanische Gaststudentin Nachhilfe in Rhythmik, was Colins größter Schwachpunkt war; sobald irgendetwas synkopiert war, widerstand es ihm sofort. Ein paar eingekiffte Jazzkollegen waren zwar der Meinung, dass gerade
das
der Punkt sei,
Mann
… aber Colin bezahlte doch lieber zwanzig Euro pro Stunde, um dieses lästige Defizit auszugleichen. Er verbrachte ganze Nachmittage über den recht anspruchsvollen Trommelund Transkriptionsübungen seiner Lehrerin Mitsuko Wakabayashi.
    Walter, der ein Faible für fremde Namen hatte, die niemand aussprechen konnte, fragte ihn im Scherz, ob diese Frau wirklich existierte. Colin zeigte ihm daraufhin ein Notenblatt mit einer Komposition:
For Mitsuko, Ballad in (almost) C
. Er hatte dieses kleine Stück für sie geschrieben. Natürlich bewies das gar nichts, dachte Walter zerknirscht. Er existierte immerhin auch, und Colin hatte ihm noch nie ein Musikstück gewidmet.
    Art, das Saxophon, lehnte während dieser Zeit in einer Ecke und wurde nur mehr in den schon erwähnten
festgefahrenen Situationen
hervorgeholt. Solche Tage begannen meist damit, dass Colin nicht aufstehen wollte und zu weinen begann, wenn man ihn ansprach oder berührte. Das Weinen verzerrte seine Züge derart, dass man kaum noch ein Gesicht erkennen konnte; wie die farbigen Puzzlespiele, aus denen Neonreklameschilder wurden, wenn man sie durch verregnete Windschutzscheiben betrachtete.
    Leider häuften sich diese Tage, je näher Colin dem Abschluss seines Studiums kam, und ballten sich schließlich zu tragischen Wochen zusammen. Walters Geburtstag fiel mitten in eine solche Woche. Er lud seine Freunde ein und sie bildeten einen heiteren Sitzkreis um den Küchentisch, tranken und rauchten Marihuana. Dann kam Colin zur Türhereingewackelt, setzte sich benommen auf einen leeren Sessel und sagte kein Wort. Seine Finger, die noch von synkopierten-Takten träumten, trommelten nervös auf der Tischplatte. Man begrüßte ihn. Er nickte schwach.
    Walter war froh, dass Colin sich doch noch dazu aufgerafft hatte, an der kleinen Geburtstagsfeier teilzunehmen; auch wenn er nur zwei Zimmer weiter saß, war sich Walter der ungeheuren Entfernung, die die paar Schritte für Colin bedeuten mussten, wohl bewusst.
    Die letzten Wochen ihrer Beziehung bestanden ausschließlich aus verwirrenden Szenen, die nichts und niemand aufschlüsseln konnte.
    Colin, zitternd im Türrahmen, mit zerschnittenem Oberarm. Walters entsetzte Frage:
Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht
? Colins Antwort:
Nicht anfassen, bitte
. Walter, der ungläubig auf die größte Wunde starrte, die wie ein blutiger Fingerabdruck aussah, ein herausgeschnittenes Stück Packeis. Mein Gott, er wird sich noch völlig zerstören, dachte Walter. Aber das Blut war bereits geronnen, und die Hautzellen hatten an den Rändern ihre winzigen Baustellen errichtet.
    Colin, der in einer Buchhandlung vor Walter davonrannte, weil dieser den Arbeitstitel seines letzten Klavierstücks unnütz im Munde geführt hatte. Walter, der ihm sofort nacheilte und zu seiner großen Beschämung ein paar Leute um die Richtung fragen musste, in die der junge Mann, etwa so groß und hier an den Seiten ausrasierte Haare – Danke! Manche Leute wiesen dem unfreiwilligen Verfolger ohne Aufforderung die Richtung. Sie taten es nicht aus Bösartigkeit oder deshalb, weil sie den Flüchtenden für einen Verbrecher hielten; sie waren Gardinen, die der Windstoß einer interessanten Menschenbewegung mit sich zog.
    Und schließlich, ganz zuletzt: Colin, der sich kaum mehr bewegen konnte, weil seine Abschlussprüfung in drei Tagen stattfinden sollte, und er war nichtswürdig und klein und unwissend, im Begriff, vom brutalen Universitätsbetrieb zerrieben zu werden wie ein Käfer. Seine Bewegungen, die ruckartig und ökonomisch geworden waren, und dann und wann froren sie einfach ein, wie eines der Ausdauerhäschen von Duracell am Ende seines langen, langen Lebens. Am Tag der Prüfung chauffierte Walter ihn zur Universität, wo er ihn ohne ein Wort ablud. Dann setzte er sich in ein Café und wartete auf ein Zeichen Gottes. Nach vier Stunden kam eine SMS von Colin, in der er mit vielen Ausrufezeichen erklärte, dass er die Prüfung bestanden habe. Walter nickte

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