Die Frequenzen
auf meinem Knie mit ihren kaum desinfizierten Fingern zu berühren, nach Art eines Ungläubigen Thomas, der einfach nicht einsehen will, dass diese kleine Stelle verletzter Haut tatsächlich so weit ging, Schmerzen durch den kleinen Körper zu jagen. Wenn sie einmal nicht mehr weiterwusste, stellte sie ein großes Brettspiel auf den Wohnzimmertisch und begann die bunten Figuren zu bewegen, so lange, bis man neugierig wurde und trotz blutigem Ellbogen oder Kopfweh oder leichter Übelkeit darum bettelte, mitspielen zu dürfen. Ablenkung war einer ihrer bestausgebildeten Instinkte, er funktionierte perfekt. Dazu kam noch ihre vollkommene Immunität gegenüber Geschichten. Als ich ihr eines Morgens, aus Gründen, die ichheute nicht mehr weiß, die Handlung des Märchens vom
Rattenfänger von Hameln
bis zu dem Punkt erzählte, da die Kinderschar in einem fernen Land unter einem fremden Himmel hoffnungslos dahinzog, begann sie nur über die Folgen einer solchen Entführung zu sinnieren. Weit würde dieser Spielmann ja nicht kommen, und wenn er einmal irgendwo ankäme mit seiner Horde verzauberter Kinder, dann ginge das Gequengel wahrscheinlich erst recht los, noch bevor er das Instrument abgesetzt hätte. Ein paar Kinder müssten dann sicher aufs Klo, die anderen hätten schrecklichen Hunger, und der dumme Musikant sähe sich zu seinem Entsetzen den Ansprüchen einer riesigen Familie ausgesetzt.
– Die einzigen Gewinner bei der Geschichte, sagte meine Tante und legte weiter Hemden zusammen, sind die Erwachsenen, die allein in Hameln zurückbleiben. Sie leben ein paar Monate ohne Geschrei und Lärm und Kleinkindbedürfnisse und setzen sich dann friedlich zusammen, beraten sich und machen neue Familien.
Und ich, in meiner Verwirrung, verpasste die Gelegenheit zu fragen, wie. Die Hemden, kunstvoll gefaltet und gezwungen, sich selbst zu umarmen, bildeten einen weißen Turm auf dem Küchentisch.
– Kann Walter uns besuchen kommen?
Mein Vater sortierte gerade Untersetzer für Biergläser nach Marken. Die meisten waren rot und abgewetzt. Als er sie geordnet hatte, mischte er sie wieder durch, wie Spielkarten, und fing von neuem an. Er hatte meine Frage überhört.
– Papa!
– Ja?
– Kann Walter zu uns kommen? Er bleibt eine ganzeWoche, weil sein Papa in der Nähe ein Kraftwerk entworfen hat, und jetzt fahren sie her, um sich das anzusehen, weil sein Papa –
– Dieses seltsame Kind?, fragte mein Vater. Ich meine, das ist doch dieses ungesunde, bleiche Kind, oder?
Er wusste genau, wer Walter war. Er wusste es, weil er genau wusste, wer Walters Vater war. Der große Architekt Zmal.
– Er ist nicht bleich und ungesucht, sagte ich.
– Unge
sund
, korrigierte er.
– Hab ich doch gesagt.
– Nein, du hast gesagt unge
sucht
. Du weißt selbst, dass er bleich und seltsam ist und dass du besser nicht so viel –
– Aber das ist doch überhaupt nicht wahr!
Das Gespräch kam nicht von der Stelle. Ich fühlte mich den Tränen nahe. Aber solange mein Vater im Raum war, konnte ich auf keinen Fall weinen, das stand überhaupt nicht zur Diskussion. Also blieb die unangenehme Spannung zwischen meinen Augen, bis ich endlich allein war.
– Unge
sund
, korrigierte mein Vater noch einmal, als er aus dem Zimmer ging.
Das Schlimmste war, dass er Recht hatte: Walter
hatte
sehr helle Haut. Er war deshalb oft das Ziel von Spott und sehr empfindlich, wenn man ihn darauf ansprach. Einmal hatte ich erlebt, dass er zugab, sich die Wangen geschminkt zu haben, damit er nicht so aussah, als wäre er krank. Erst einmal hatte Walter bei mir übernachtet. Damals hatte er nicht einschlafen können, weil ihm ein Plakat, das im Kinderzimmer hing, Angst machte.
Die neue Rolle
Mit schräg gestelltem Vorderreifen balancierte Walter an der Kreuzung. Das Fahrrad knarrte und zitterte, wanderte millimeterweise vor und zurück, um das Gleichgewicht zu halten. Seine Füße kauten auf den Pedalen herum.
Dann war der Seiltanz vorbei und er tauchte zurück in den Straßenverkehr. Der Fahrtwind zerrte an seinen Ärmeln und verlieh ihm große, bauschige Muskeln.
Walter hatte sich am Morgen die Haare gewaschen, und obwohl sie nicht besonders lang waren, waren sie immer noch nicht trocken. Aber es war ein warmer Tag und ein wenig gefiel ihm auch die Vorstellung, sich eine Erkältung einzufangen, nichts Schlimmes, nur ein kleiner Dämpfer, der ihn für die nächste Zeit von allen Verpflichtungen und Anfeindungen befreite.
Er war schon fünf Minuten zu
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