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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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spät und trat kräftiger in die Pedale. Schnaufend und mit feuchten Haaren kam er in der Praxis an. Als er von der hörbehinderten Sprechstundenhilfe, die sich einer korrekten, aber an den Rändern der Konsonanten sonderbar abgewetzten Sprache bediente, nach seinem Namen gefragt wurde, bekam er zu seiner Überraschung einen Hustenanfall. Das ist ja schnell gegangen, dachte er zufrieden.
    Nach der Katastrophe mit Colin und der überstürzten Trennung hatte er in einem Kleidergeschäft zufällig Jessica, seine erste Freundin, getroffen, die ihn etwas steif, aber mit einem unergründlichen und viel sagenden Blick begrüßte. Er hatte so getan, als sei sie gar nicht da. Aus den Augenwinkeln hatte er dann beobachtet, wie sie lautlos zu weinen begann und sich zwischen gigantischen Kleiderständern auflöste.
    Seine Schwester hatte ihm zu einer Therapie geraten. Einfach mal über alles reden. Das war nicht schwer und es kostete auch nicht die Welt.
    Der Tod, was ist der Tod? Der Tod ist die Frage aller Fragen
.
    Sorgen Sie rechtzeitig für den Ernstfall vor
.
    Im Ausgleich für die Mühen der Ebene und den aufrechten Gang hat uns die Evolution mit dem Bewusstsein ausgestattet, dass wir sterblich sind. Ein fairer Tausch?
    So ein elendes Geschwätz, dachte Walter. Er faltete die Broschüre auf. Ein Bild von einem Schiedsrichter, der pausbäckig in eine Pfeife bläst. Walter musste lachen. Ein rundes, unsympathisches Gesicht, in das man am liebsten eine Nadel stechen würde, nur um zu sehen, ob es platzt.
    Sorgen Sie vor
.
    Jetzt
.
    Walter verlor die Geduld und legte die Broschüre weg. Er war sich sicher, dass er den Schiedsrichter schon einmal gesehen hatte. Vielleicht im Fernsehen. Sieben andere Menschen saßen mit ihm in dem Wartezimmer. Bestimmt würde er als Letzter drankommen.
    Die Stunde begann damit, dass die Therapeutin ihn bat, ihr zu erklären, warum er hier sei und was er sich von einer Therapie erhoffe. Walter redete von Beziehungsunfähigkeit, Homosexualität, Richtungslosigkeit in beruflicher Hinsicht und dergleichen mehr. Valerie folgte anfangs allem, was er erzählte, aufmerksam, sie schrieb sogar einige Stichworte mit, dann aber legte sie den Stift beiseite und bildete aus ihren locker verschränkten Fingern eineHängebrücke, auf der sie ihr Kinn balancierte, während sie ihm mit leicht zur Seite geneigtem Kopf zuhörte. Als Walter zu Ende gesprochen hatte, erkundigte sie sich, ob er zu Ende gesprochen habe, obwohl das offensichtlich war, und fragte ihn:
    – Würden Sie von sich sagen, dass Sie diese Therapie wirklich brauchen?
    – Na ja, sagte Walter, vielleicht nicht direkt
brauchen
, aber ich habe mir gedacht, dass es wichtig sein könnte, mit einer kompetenten Person über all diese Dinge zu sprechen.
    Sein Gesichtsausdruck war so ernsthaft, dass er fast darauf ausglitt und in ein unsinniges Gelächter ausbrach. Er konnte sich dieses seltsame Schwellengefühl nicht erklären. Valeries Mund zog sich ein wenig zusammen, als sei sie kurz davor, ein spitz zulaufendes Wort wie
Mönch
auszusprechen. Sie blickte auf ihre professionell deformierte Handschrift und rollte ihren Bleistift mit dem Zeigefinger, auf dem ein rot lackierter Nagel hockte, hin und her, als müsste sie sich den nächsten Schritt wohl überlegen.
    – Sie haben genau das gesagt, was ich hören wollte.
    Walter war verblüfft. Es war die reine Wahrheit. Er hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass es ihm inzwischen nicht einmal mehr auffiel. Wie eine böse Vorahnung überkam ihn der Verdacht, dass er vielleicht überhaupt keine Probleme hatte. Dass er mit Kanonen auf die Spatzen seiner Einbildungskraft schießen wollte.
    – Ich muss mich entschuldigen, sagte Valerie. Das war möglicherweise –
    – Nein, nein, sagte Walter etwas lauter als beabsichtigt.
    Er hatte begonnen, mit den Fingern auf dem Holz der Sessellehne zu trommeln. Er bemerkte es und hörte auf. Valerie, die Therapeutin, bat ihn, ihr noch einmal alles vonvorne zu erzählen. Diese Beziehung zu dem Musiker habe zumindest viel versprechend geklungen. Habe Walter sich schon einmal gefragt, ob er anderen Menschen genauso viel zu geben imstande sei, wie –
    – Warten Sie, sagte Walter. Wie haben Sie das gewusst, ich meine …
    – Ach, es tut mir leid, sagte Valerie.
    – Nein, nein, sagte Walter. Sie haben ja Recht, Sie haben mit Sicherheit –
    Er sah an ihrem Gesichtsausdruck, dass er auch jetzt wieder gesagt hatte, was Valerie erwartete. Ein komisches Gefühl. Er

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