Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
Vom Netzwerk:
Ampelmännchen war nicht rot, sondern erstrahlte in einem wehmütigen Kupferbraun, das Erinnerungen an altertümliche Türklinken in der Form melancholischer Löwenköpfe heraufbeschwor. Die Proportionen der Gebäude veränderten sich stetig, verschoben sich, manches wurde runder, anderes schien langsam in sich zusammenzufallen, wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht. Die Welt war ein Schachbrett in einem konvexen Karnevalsspiegel.
    Meine Mutter ging wieder ein paar Schritte, dann blieb sie stehen, holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und schnäuzte sich. Selbst dieses Geräusch wirkte verlangsamt.
    Das Einzige, was in diesem gottverlassenen Augenblick noch fehlte, waren diese körnigen, flackernden Verunreinigungen alter Stummfilmbilder. Und ein Heer vermummter Liquidatoren, die auf die strahlengeschädigte Sonne zuliefen wie auf eine große, entsetzliche Unglücksstelle im All, im Gepäck große, unförmige Schaufeln, mit gewaltigen Schwimmbewegungen aufwärts strebend, auf den völlig entgeisterten Ort der Verwüstung zu.
    Die meisten Menschen waren jetzt ruhig und überwältigt, atmeten still durch den Filter ihrer vor den Mund gehaltenen Hände oder klammerten sich aneinander. Ein Kind versteckte sich hinter seiner Mutter, kam gleich wieder hervor, aber es hatte nichts geholfen, die Welt war immer noch ohne Orientierung und es verschwand wieder hinter den Beinen. Die seltsame Vorstellung, dass diese zerdehnte und zerbeulte Minute Dunkelheit nur ein kurzer Aufenthalt im Schatten des Mondes war, der mit vielen hundert Kilometern pro Stunde übers Land jagte, brachte meinen Gleichgewichtssinn völlig durcheinander.Ich brauchte etwas, an dem ich mich festhalten konnte. Meine Hand tastete vorwärts. Das Brückengeländer war warm wie am Tag.
    Ein paar Jugendliche auf der anderen Straßenseite ließen im verzweifelten Bemühen, die Sonne wieder anzuzünden, ein paar Feuerwerksraketen steigen. Die Raketen schwirrten ängstlich davon, erlitten auf halber Strecke einen Herzinfarkt und fielen in den Fluss. Ein paar Schritte von ihnen entfernt entdeckte ich einen Polizisten, der wie ein eben erst erwachter Prinz über die Brücke stolzierte.
    Nach sehr, sehr langer Zeit erschien am Rande der Verdunkelung ein gleißendes Loch, aus dem Licht quoll: wie der Stich einer glühenden Nadel in einen Augapfel. Man konnte das Licht nicht ansehen, ohne ein Knirschen im Kopf zu hören, ein mürrisch-vertrautes Geräusch wie beim Verrücken von antiken, zentnerschweren Möbeln. Die wiedererweckte Sonne streckte ihre ersten Strahlen aus, die Fühler eines auf den Rücken gedrehten Goldkäfers.
    Es war der Moment, da man sich wieder für längere Zeit von der Sonne abwenden konnte. Bisher hatte ich nur kurze Kontrollblicke in die Runde getan, um mich zu vergewissern, dass die Welt sich nicht plötzlich aufgelöst hatte. Jetzt sah man auch das geheimnisvolle Glühen am Horizont, ein furchtbares, geisteskrankes Licht, wie es bestimmt nur in den Gehirnen von Serienmördern leuchtet. Es war eine Mischung aus Blau und Gelb, ohne auch nur in Ansätzen so etwas wie Grün zu sein. Sosehr es sich auch anstrengte, das Licht blieb wie ein unaufgelöster Dominantseptakkord stehen.
    Allmählich kam das normale Tageslicht zurück, all die eingefrorenen Bewegungen tauten auf, die Augenlider, die sich während der ganzen Zeit tot gestellt hatten, begannenzu flattern, und über das Gesicht meiner Mutter liefen Tränen, sie schluchzte wie ein kleines Mädchen, hielt sich eine Hand unter die Nase, als drohte ihr Gesicht zu schmelzen. Zum ersten Mal seit mein Vater uns verlassen hatte, heulte sie und es wurde immer schlimmer, ihre Hände wussten nicht wohin, kletterten wie verirrte Meerkatzen auf ihrem Oberkörper herum, auf der Suche nach einem Ausschaltknopf.
    – Komm, zog ich sie am Ärmel, gehen wir.
    Sie gab meinem Drängen nach und ließ sich wie eine Erblindete führen. Niemand beachtete uns, ein seltsam schwankendes Paar, das über die Brücke ging, alle sahen immer noch in den Himmel, denn natürlich war jede Sekunde dieses Spektakels wertvoll. Nach sechzig Sekunden war alles vorbei und der Vorhang im Himmel wurde langsam hochgezogen, damit der zweite Akt des Tages beginnen konnte. Die Jugendlichen auf der anderen Straßenseite schrieen wild durcheinander.
    – Arschlöcher, sagte ich, um irgendetwas zu sagen.
    Zuhause rollte sich meine Mutter auf der Couch ein und schluchzte weiter. Ihre Schultern bebten. Sie war völlig aufgelöst,

Weitere Kostenlose Bücher