Die Frequenzen
umarmte ihre Knie.
– Ist ja schon vorbei. Überstanden. Vorbei, wiederholte ich hilflos und hielt ihre Hand, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
Draußen schien die Sonne wieder auf die Straße herab, als wäre nichts vorgefallen. Der Schatten des Mondes raste unterdessen weiter mit atemloser Geschwindigkeit über die Erdoberfläche und schluckte andere Städte, Bauwerke und Betrachter.
Der Zeitelefant
Im Jahr 2000 nach Christus vergaß ein Computer irgendwo auf der Welt, dass die Doppelnull in seinem Betriebssystem, welche Schlag Mitternacht plötzlich in seinem Speicher aufgetaucht war, dass dieses seltsam ursprünglich anmutende Ziffernpaar nicht etwa 1900 bedeutete, sondern die undenkbare Zahl 2000. Der arme Computer konnte sich darauf keinen Reim machen. Das wäre ja ein Zeitsprung von mehr als neunzig Jahren in die Vergangenheit gewesen! Er teilte seine Bedenken daraufhin allen anderen Computern der Welt mit, und das Gerücht vom unerlaubten Zeitsprung verbreitete sich rasend schnell über den ganzen Globus. In wenigen Sekunden verloren Millionen von psychisch labilen Intel-Prozessoren den Verstand. Stromausfälle auf der ganzen Erde waren die Folge, Aufzüge blieben zwischen den Stockwerken stecken und zwangen die in der Finsternis gefangenen Passagiere dazu, sich zögernd miteinander bekannt zu machen und sich ihre Lebensgeschichten zu erzählen. Männer, die sich vorsichtshalber kurz vor Mitternacht zusammen mit Frau und Kindern in den Familienbunker gesperrt hatten, drehten plötzlich durch und schossen auf alles, was sich bewegte; zuletzt auf sich selbst. Die internationale Raumstation ISS verlor das Gleichgewicht, stürzte vom Seil und verglühte beim Eintritt in die Atmosphäre. Alle Bankkonten der Welt wurden auf den Betrag 0,00 gesetzt. Explosionen bedeckten die Landkarte. Atompilze wuchsen majestätisch am Horizont. In der gigantischen Staubwolke, die sich in den folgenden Stunden bildete und Europa und Asien sowie weite Teile Nord- und Südamerikas überzog, erschien ein bärtiges Antlitz und forderte die Seelen derToten dazu auf, sich zu erheben und sich ohne Umwege auf die Anklagebank zu begeben, wo das lange schon überfällige Kreuzverhör stattfinden sollte. Aber statt der aufgerufenen Seelen kamen lauter Leichen, teilweise oder vollständig verweste Körper, die sich nur mühevoll und schwerfällig fortbewegen konnten. Auch waren darunter ein paar Gliedmaßen, die früher alle zu einem Körper gehört hatten und sich jetzt in verschiedene Richtungen bewegten, wie Asseln, wenn man einen an der Unterseite feuchten Stein im Garten aufhebt.
Steiner seufzte und hörte das unangenehm harte Echo seines Seufzens in den Badezimmerfliesen. In diesem Jahr war das Spektakel zwar etwas ruhiger verlaufen, aber es war dennoch unangenehm und laut. Steiner saß angezogen in der Badewanne und fühlte sich hundeelend. Seine Frau hatte sich in einer Silvesternacht das Leben genommen.
Sein Pyjamaoberteil stank. Missmutig roch er an seiner Schulter.
Ein entsetzlicher Juckreiz hatte von seinem Körper Besitz ergriffen. Er war sich sicher, dass er vom vielen Fernsehen kam, von den Strahlen der Bildröhre. Seine Fingernägel setzten auf der Wange auf, aber er hielt sich zurück, erlaubte seinen Fingern nicht, sich zu kratzen, obwohl alles in ihm danach verlangte.
Der verhängnisvolle Silvestertag lag bereits Monate zurück, aber der Lärm in seinem Kopf hatte immer noch nicht aufgehört. Steiner hörte manchmal, wenn er das Ohr gegen die Fensterscheiben presste, vielstimmigen Gesang. Vermutlich kam er aus einem der oberen Stockwerke. Da oben ging es zu wie in einem Taubenschlag. Andauernd Partys, Gelächter, Singen. Und diese alberne Jazzmusik, tagein tagaus, oft bis spät in die Nacht.
Einen einzigen Mieter gab es im Haus, den jungen Herrn Kerfuchs, der gerade erst eingezogen war, bei dem er sich noch nie beschweren musste. Er zahlte auch immer rechtzeitig. Aber er war ein sehr scheuer Mensch, sehr zurückgezogen. Obwohl er eine Freundin hatte, eine hübsche noch dazu, eine recht kleine Frau, die immer bedruckte T-Shirts trug und ein wenig hinkte.
Steiner hatte oft versucht, die drei- oder vierzeiligen Sprüche auf ihren T-Shirts zu lesen, aber dazu hätte er ihr auf die Brüste starren müssen, was natürlich nicht in Frage kam. Er hatte schon genug Schwierigkeiten mit der Aufschrift auf seinem Pyjamaoberteil:
Time flies like an arrow
.
Zeit-Fliegen mögen einen Pfeil
.
Der Satz ergab überhaupt keinen
Weitere Kostenlose Bücher