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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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undurchsichtig waren. Eine 100-Watt-Glühbirne, die man dadurch betrachtete, verwandelte sich in eine blau glühende Frucht. In der Schule verglichen und tauschten wir die verschiedenen Brillen-Modelle wie Sammelkarten. Wer keine besaß, war eine
Schwuchtel
.
    Ich schaute mir die Sonnenfinsternis mit meiner Mutter an. Wir gingen dazu auf die Hauptbrücke, die zur Inneren Stadt führt.
    Das Einzige, was man darüber sagen kann, ist, dass sich eine totale Sonnenfinsternis wie ein riesengroßer Fehler anfühlt. Alles ist falsch: die Schattierung und der Faltenwurf der Kleidung, die Hände, die Gesichter der Umstehenden, die Gebäude der Umgebung, das Wasser des Flusses, über dem man das Spektakel im Himmel betrachtet; falsch das Verhalten des Gehörsinns, der plötzlich dumpf wird, wie unter Wasser oder hinter Glas. Man bewegt sich in der plötzlichen Finsternis unter anderenSchaulustigen, die an die Darstellung der Toten bei Homer erinnern: demütige Gestalten, die möglichst wenig Raum beanspruchen, farblos und voller Sehnsucht nach Licht.
    Für eine Minute hing der gespenstische Sonnenring im verdunkelten Himmel wie ein Einschussloch in Blech, mit diesen flackernden Metallfransen am Rande der Öffnung. Kurz vorher wälzt sich der schwere Körper des Mondes über die Sonne, es dauert etwa zwei Sekunden und man traut seinen Augen nicht: das runde münzförmige Stück von der Farbe des Himmels, das seit einer halben Stunde langsam und stetig vorgerückt ist und immer mehr von der Sonnenscheibe abgebissen hat, wird plötzlich plastisch, wie eine schwarze Kameralinse, und legt sich über die Sonne, nicht elegant oder hypnotisierend, wie man es vom Mond erwarten würde, sondern schwerfällig und plump wie ein Betrunkener, der sich auf eine schlafende Frau rollt.
    So schnell wie sich ein Augenlid schließt, ist es dunkel geworden. Man muss die Brille abnehmen, da man sonst völlig blind ist. Eine Sekunde ist es stockdunkel, dann springt ein inneres Notstromaggregat an und der Blick taumelt benommen umher, streift Gebäude, Bäume, Menschen, alles in falscher Färbung und Aufstellung. Der Fluss bewegt sich nun sehr viel langsamer fort, wie jemand, der an einer Unfallstelle vorbeifährt und in Zeitlupe seinen Kopf reckt. Seine Farbe ist das ungesunde Bronze-Grau von Moorleichen.
    Den meisten entkam ein Schrei, als die Sonne von dem schwarzen Sack verschluckt wurde. Einige begannen verwirrt zu klatschen, gespenstisch verlangsamt, als würden sie sich im selben Augenblick ihrer klatschenden Hände bewusst – und hörten gleich wieder auf.
    Nachdem sich die Augen, in den wenigen Sekunden, die ihnen dafür blieben, an die neuen Lichtverhältnissegewöhnt hatten, war alles in ein unnatürliches Halblicht getaucht, ein Licht, das vor Schreck alle Farben durcheinandergebracht hatte, dafür aber Linien und Konturen verstärkt hervortreten ließ. Alles schien jetzt aussichtslos und deprimierend. Das Ganze musste ein schrecklicher Irrtum sein. Irgendetwas war schiefgegangen, mitten in der routinemäßigen Verschiebung der Körper; vielleicht war die Erde aus ihrer Bahn geschlittert und ins All davongedriftet, oder eine riesige Sonnenexplosion verbrannte gerade die erdabgewandte Seite des Mondes und verlieh ihm dadurch dieses albtraumhafte Hintergrundglühen.
    Meine Mutter, die sich in ein riesiges Pendel verwandelt hatte, stieß gegen mich. Ihre Schuhe trugen sie ein paar Schritte vorwärts, dann kehrten sie um. Ich sah, was sie meinte. Es hatte auf einmal keinen Sinn mehr, irgendwohin zu gehen. Die beiden Stadthälften, die links und rechts des Flusses lagen, hatten sich in blutleere Holzschnitte verwandelt. Geschäfte, Büros, Wohnungen, Parks existierten nicht mehr. Den Vögeln hatte es die Sprache verschlagen. Alle Fenster erschienen vergiftet. Häuserfronten gefroren zu eilig hingepatzten Abziehbildchen wie für eine Briefmarke. In diesem hartkantigen, mittelalterlichen Licht, das sonst nur in Totentänzen und düsteren Passionsspielen vorkommt, konnte im Grunde alles passieren. Der Körper wurde wachsamer, der Blick klar und unruhig.
    Der nackte, unfreundliche Wind, der direkt aus dem Weltraum zu kommen schien, war nun überall zu spüren. Es war ein Wind, der sich nicht um Erfindungen wie Kleidung oder Kopfbehaarung kümmerte. Er durchdrang alles.
    Die Ampeln schalteten währenddessen immer noch von Rot auf Grün, obwohl sie niemand mehr beachtete,weil sie die notwendigen Signalfarben nicht mehr richtig trafen. Das rote

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