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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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gestellt, einstudiert, und mein Vater lebte in Wirklichkeit noch immer irgendwo im Haus, in einer Geheimkammer hinter all diesen Schubladen, Schachteln und Bücherattrappen, in einem Raum ohne Türen und Fenster, und nahm so an unserem Leben teil, während er intensiv an irgendetwas Wichtigem arbeitete, an einem Buch vielleicht, das seine ganze Zeit beanspruchte. Er beobachtete uns durch Gucklöcher und zwinkerte uns zu, wenn wir etwas Schönesgesagt oder getan hatten. Er war das Gesicht, in das sich mein eigenes verwandelte, wenn ich es lange im Spiegel anstarrte. Und vielleicht handelte sein Buch von uns, von dem Leben, das wir führten, seit er fort war. Er schrieb an einer Studie über allein erziehende Mütter, an einem Roman über ein kompliziertes Mutter-Sohn-Verhältnis, an einer Meditation über seinen eigenen Tod und das Bild, das die dazugehörige Nachwelt abgeben würde.
    Und manchmal hörte ich ihn sogar beim Einschlafen, wenn ich meinen Kopf auf dem Polster hin und her drehte, manchmal hörte ich da seine Stimme, nur für einen Augenblick und wie durch Mauern gedämpft, aber es war eindeutig seine Stimme. Er sagte irgendetwas Ruhiges,
Gute Nacht
oder
Pass auf dich auf
in einer fremden Sprache.
    An anderen Tagen fand ich die Fernbedienung im Wohnzimmer woanders liegen. Vielleicht hatte er während meiner Abwesenheit kurz ferngesehen, natürlich. Ich experimentierte ein wenig, ließ im Winter das Küchenfenster lange, viel zu lange offen, was ihn immer zur Weißglut gebracht hatte, aber er tappte in keine meiner Fallen. Sein Versteck musste hermetisch abgeriegelt sein, sodass es ihn vor einem frühzeitigen Abbruch seines Exils bewahrte. Vielleicht existierte an der verborgenen Tür der Geheimkammer so etwas wie ein Zeitschloss, das ihn erst freigab, wenn ich, sagen wir, achtzehn Jahre alt war.
    An einem hellen Morgen im Mai wachte ich spät auf. Ich war bis drei Uhr morgens wach gelegen und hatte mit dem Weltempfänger unverständliche Radioprogramme gehört.
Eine Kleine Nachtmusik
auf einem russischen Sender. Ein Tennismatch, weit weg, wie von einem anderen Planeten, mit den gespenstisch verdoppelten Echos der geschlagenenBälle.
BBC World
. Ein weiteres Kapitel aus unserer Reihe
A Life in Jazz. Today we take a close look at the life of Thelonious Monk
. Ein Autist. Asperger-Syndrom.
Deutsche Welle
. Der Sommersprossenmann von
Simply Red
sang in meinen Ohren:
And I LOVE the thought of coming HOME to you … EVEN IF I know we can’t MAKE IT!
    Am Morgen fand ich mich neben dem Radioapparat liegen. Das Kabel der kleinen Stöpsel-Kopfhörer verschwand unter meiner Decke, es war um mein Handgelenk gewickelt.
    Als ich in die Küche gehen wollte, hörte ich meine Mutter draußen vor der Haustür mit jemandem sprechen. Ihre Stimme war laut und aufgeregt. In schrecklicher Gewissheit rannte ich zur Tür und presste mein Ohr an das Holz.
    Aber es war eine fremde Männerstimme, die auf die erregten Fragen meiner Mutter antwortete. Mehrmals wiederholte sie dieselbe Frage (ich erkannte es an der Sprechmelodie, nicht am Inhalt des Gesagten) und bekam nur eine entschuldigende oder ausweichende Antwort. Mir wurde nach und nach klar, dass es um Briefe ging, um einen Absender, über den die männliche Stimme, die wohl dem Briefträger gehörte, nichts sagen konnte oder wollte oder durfte.
    Die Stimme meiner Mutter wurde schrill, dann bettelnd, dann wurde es ganz still. Die Klinke bewegte sich und ich flüchtete mich in mein Zimmer. Ich wusste, dass sie mich gesehen hatte; als ich die Zimmertür erreicht hatte, stieß ich mit der Schulter gegen den Türrahmen. Sie sagte kein Wort.
    Wenig später ging ich zu ihr in die Küche. Sie hatte keinen Tee gemacht und auch kein Frühstück. Nicht einmal die morgendlich zerknitterte Zeitung lag auf dem Tisch.Alles, was es an diesem Morgen gab, war ein kleines Stück Papier, auf das meine Mutter mit belebten und flinken Augen starrte.
    Sie erzählte mir nicht, was in dem Brief stand. Aber von diesem Tag an kam es nie wieder vor, dass sie auf ein Frühstück verzichtete. Auch die Zeitung, die nie jemand las, die aber zur täglichen Routine gehörte, lag immer griffbereit auf dem Tisch. Ihr Gesicht war noch das alte und doch nicht.
    Ihr wirkliches Gesicht sah ich erst einige Jahre später wieder.
    Im Jahr 1999 wurde aus heiterem Himmel eine totale Sonnenfinsternis angekündigt. Plötzlich lagen Tageszeitungen als Geschenk für Abonnenten spezielle Sonnenbrillen bei, die fast vollkommen

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