Die Frequenzen
wachte um vier Uhr morgens auf, ging dann unruhig in der Wohnung umher und stürzte sich, wenn er aufwachte, sofort auf ihn, um sich einen Orgasmus und ein paar blaue Flecken zu holen.
Wolfgang legte die Fernbedienung wieder hin und setzte sich vorsichtig neben sie. Jetzt konnte er sogar ihr Gesicht erkennen, das sich an den kühlen Stoff des Sofas schmiegte, die kleinen knospenartigen Augen, die fest geschlossen waren, die breiten Wangenknochen, die kleinen Falten um die Mundwinkel, die sich im Alter zu einem melancholischen Flussdelta verdichten würden.
Was, wenn er Gabi nun einfach in einen Rollstuhl setzen und in die Stadt fahren würde? Wenn er sie vor ihrem Lieblingsrestaurant wecken, den Rollstuhl stehen lassen und mit ihr durch die Passage gehen würde, in die Geschäfte, die sie am liebsten hatte? Würde sie irgendwas Verrücktes machen, alle Bücher in einem Geschäft wie wild zu ordnen beginnen, nach Farben oder sonst irgendeiner zwanghaften inneren Logik? Würde sie wieder einen Anfall bekommen?
Natürlich würde er nichts dergleichen unternehmen. Er saß hier mit ihr fest und wurde unter der Last immer schwächer. Aber er musste sich beherrschen. Sie war eine zarte, filigrane Qualle, die an dieses blaue Sofa gespült worden war und die man nicht berühren durfte, wenn man nicht riskieren wollte, dass sie einem unter den Fingern zu Staub zerfiel.
Am nächsten Tag in der Früh, als Wolfgang die ohnehin nicht besonders fest geschnürten Fesseln von ihren Handgelenken entfernte, sagte Gabi, dass sie heute mit dem Kind spazieren gehen wolle. Wolfgang fragte, ob es nicht vielleicht ein bisschen zu früh sei, allein mit dem Kind.
Nein, sie war sich sicher. Und sie musste unbedingt wieder raus. Es war September, der Sommer war schon so gut wie vorbei.
Ein wunderbarer Anblick: Parkbänke im Sonnenlicht. Und unter ihnen, am Kiesboden, die Schattenrisse ihrer Sitzflächen, wie ein doppelter Boden, Ersatzbretter für den Fall, dass jemand durchbricht. Bänke, die Verkörperung absoluter Bewegungsunfähigkeit. Nichts scheint so unverrückbar wie eine Wartebank, in einem Bahnhof, an einer Haltestelle, in einer Klinik, ein Objekt völlig ohne den Wind der Zeit, der an allem zerrt und nagt.
Gabi ging mit dem Kinderwagen über den Parkweg. In der Ferne hörte man jenes halb verstimmte Glockenspiel, das immer um diese Tageszeit in einem der vielen Kirchtürme der Umgebung gespielt wurde. Gerade hatte sie eine seltsame Begegnung mit einem kleinen, rötlichen Hund gehabt. Er hatte einen Stock im Maul getragen. Und Gabi hatte den Kinderwagen losgelassen und ihn entgegengenommen. Jetzt schlief das Baby neben dem Stock.
Der Hund war zu seiner Besitzerin, die eine Lederjacke trug und sich in einiger Entfernung mit einem Mann unterhielt, zurückgerannt. Es war – sie war sich sicher – jener ältere Mann mit dem runden, freundlichen Gesicht, den sie vor längerer Zeit einmal im Park getroffen hatte. Sie hatte ihm von ihrem Kindersegen erzählt und er ihr von seiner Frau, die an einem Silvesterabend gestorben war. Er erschien ihr verständnisvoll, und sie unterhielten sich sehr ausführlich und vernünftig über das Wetter.
Etwas Großes kam hinter ihr näher, sie hörte einen anschwellenden Lärm, bestimmt eines dieser albernen Parkfahrzeuge, diese Miniaturen von echten Straßenräummaschinen, die man zum Plattfahren des Herbstlaubs oder zum Säubern der Gehwege verwendete. Und drinnen saß meist ein hagerer, ungesund aussehender Mann, der auf dem Kopf eine Mütze trug und darüber einen Lärmschutz-Kopfhörer.
Das musste es sein, und dem Anschwellen des Motorengeräuschs nach zu urteilen, kam das Räumfahrzeug nur sehr langsam näher. Trotzdem wich sie mit dem Kinderwagen aus und trat an den Wegrand, wo die Wiese endete.
Sie wollte sich nicht umblicken, wollte nicht den Eindruck erwecken, sie fühle sich verfolgt oder gestört.
Sie kam an einer Parkbank vorbei, auf der ein Bettler schlief. Sein Nacken ruhte auf der Armlehne. Der verwahrloste Mann musste stocktaub sein, wenn er bei so einem Krach schlafen konnte. Vielleicht war auch sein Genick im Schlaf gebrochen, sanft und leise; es konnte unmöglich angenehm sein, in einer solchen Stellung zu schlafen. Und dann auch noch unter freiem Himmel. Alkohol schraubte eben alles herunter, die Wahrnehmung wie die Wünsche und Ansprüche. Der Mann stank fürchterlich.
Sie ging weiter und war einige Male kurz davor, sich nach dem kriechenden Fahrzeug umzudrehen, das sich
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