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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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scheinbar einen Spaß daraus machte, ihr auf die Nerven zu gehen.
    Das Kind lag mit geschlossenen Augen im Kinderwagen, ein Daumen steckte zwischen den winzig kleinen, Speichel glänzenden Lippen. Gleich würde er herausfallen, da niemand mehr an ihm lutschte. Das Bild war so wunderschön, dass sie sich beherrschen musste, nicht laut aufzulachen. Auch wenn sie ihr Lachen vermutlich gar nicht hören würde.
    Der Lärm schwoll weiter an, jetzt musste ihr der Witzbold schon fast auf den Fersen kleben. Gabi stieß einen wütenden Seufzer aus, den sie nicht einmal mehr hörte, so laut war es inzwischen – und wandte sich um.

Der Riss, zweiter Akt
    Im Nachhinein war mir, als wäre meine große Winterdepression nur gespielt gewesen. Ich meine, ich hätte natürlich zu jeder Zeit aufstehen können. Ich ging ja auch zur Toilette. Und mit dieser Einsicht ging eine andere, sehr seltsame, einher. Es schien mir, dass ich im Grunde nie etwas anderes getan hatte als vorzutäuschen. So zu tun
als ob
. Diese zwei unscheinbaren Wörter,
als ob
– vielleicht waren sie das Schlüsselloch, durch das man mein Leben betrachten musste.
    Nicht nur in den üblichen Dingen der Kindheit, die ein gepflegtes
Als-ob
erfordern – Fleiß in der Schule oder die sonderbaren Verrichtungen der Religion, mit der man aufwächst und die so gut ist wie jede andere –, nein, in beinahe allen Situationen gab es diese erdabgewandte Seite von mir, die immer ein wenig schlauer war als die sichtbare.
    Ich bin vier Jahre alt. Mein Vater bringt mir bei, wie man einen Fotoapparat bedient. Damals gibt es noch diese unförmigen Zauberkästen, die ehrfurchtsvoll
SofortbildKamera
genannt werden und die einem, sobald man auf den Auslöser gedrückt hat, die Zunge rausstrecken: ein weißes, glänzendes Quadrat.
    – So, da ist der Auslöser, und durch dieses Loch da … probier mal … Siehst du mich?
    Er winkt. Ich sehe ihn, ja, aber irgendetwas in mir will noch nicht zugeben, dass alles bereits durchschaut ist, dass die Lektion, kaum hat sie begonnen, ausgelutscht ist und leer – ich senke die Kamera, mein Gesicht verformt sich im Ausdruck kindlichen Zweifels, und ich – sehen Sie nur: ich
schüttle
die Kamera, nach Art eines Kleinkinds, daswissen will, was in seinem Geschenkpaket ist, eine lächerliche Bewegung, die bedeuten soll:
Funzoniert nicht, Papa helfen
.
    Warum tue ich das? Ich habe meinen Vater gesehen, mein Zeigefinger streicht über den Auslöser, geht schwebend in Position. Es wäre so einfach gewesen, die Lektion für beendet zu erklären, zu demonstrieren, dass ich kein Kind mehr war. Ihn einfach zu fotografieren. Aber stattdessen –
    – Schau, lass mich, ich mach’s dir noch mal vor.
    Spätestens als ich meine Matura hinter mich brachte, erkannte ich, dass ich ein vollkommener Heuchler geworden war, jemand, der nichts, absolut gar nichts Aufrichtiges mehr an sich hatte.
    Ich sah mich in die ernsten Gesichter der Reifeprüfungskommission blicken, sah mich die richtigen Gesten zu meinen lückenlosen Erklärungen ausführen – eine Hand, die würdevolle Purzelbäume macht, während ich die wichtigsten Eigenschaften des Epischen Theaters aufzählte, oder der zum Zeigestock umfunktionierte Folien-marker, mit dem ich den hügeligen Verlauf einer Interpolationskurve nachzeichnete –, sah mich ein ernstes Gesicht zu der ganzen Komödie machen, zu den Angabezetteln, der Sitzordnung, den Konzeptpapieren, sah mich das Lob entgegennehmen, mit den charakteristischen Gebärden der Bescheidenheit, einem etwas schüchternen Zu-Boden-Schauen, einem nicht zu kräftigen Händedruck beim Verabschieden der Prüflinge.
    Ich schämte mich nicht einmal. Denn vor wem hätte ich mich schämen sollen, wenn mein Marionettentheater das war, was von allen
Alexander Kerfuchs
genannt wurde. Ich war ein Komödiant, über den ein einziger Mensch lachte – und der war für alle unsichtbar und wohnteals finsterer, rechthaberischer Einsiedler hinter meiner Stirn.
    In einem Buch über einen jungen Dichter entdeckte ich den Satz:
Ich ist ein anderer
. Ich musste lachen. Bei allem Respekt, aber dieser junge Wilde hatte nicht die geringste Ahnung, wovon er sprach. Der Satz war eine erschwindelte und triviale Lösung, wie die des Gordischen Knotens von Alexander dem Großen.
    Als meine Großeltern wieder nachhause fuhren, war ich um einige Zentimeter größer und dünner geworden, die Haut meines Gesichts und Oberkörpers durchlitt in mehreren qualvollen Phasen noch einmal die

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