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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Geschichte Mitteleuropas während des 14. Jahrhunderts, und Millionen unschuldiger Hautzellen fielen einer mysteriösen Seuche zum Opfer. Und wie die völlig verängstigten und entkräfteten Menschen des Mittelalters beschmierte ich mich mit Wundermitteln und Salben, die ungefähr so viel halfen wie ein Gebet. Gleichzeitig verwandelte sich meine Stimme in die eines Sexualstraftäters aus einer Dokumentation, hinter einer Blende sitzend, eine Sonnenkappe auf dem Kopf, wurde tief und hoch zugleich, und an manchen Tagen konnte man sogar zwei separate Stimmen heraushören. Aus dem aufgeregten Jungen, dem kleinen Hund, der sich regelmäßig in einem Wald aus Hosenbeinen verlief und sich durch ständiges Auf-und-ab-Hüpfen, Ziehen, Zerren und Kläffen vergewisserte, dass er noch existierte, war ein nervöser, nachtaktiver Jugendlicher geworden, der plötzlich Fragen stellte, die allesamt mit
Warum sind alle anderen
begannen.
    In einem einzigen Sommer, in dem ich mehr schwitzte als in allen vorhergehenden zusammen, verwandelten sich alle Mädchen zu quälenden Aufforderungen, zu Verhöhnungeneines fehlenden Mutes, der vielleicht bewirkt hätte, dass man irgendetwas zu sagen oder zu tun imstande gewesen wäre. Ihre abschätzigen Blicke begleiteten mich überall, selbst beim Einschlafen und Aufwachen, beim Baden, bei einer Schularbeit, beim Zubinden der Schuhe, beim Tennisspielen, beim Fernsehen, beim Schwitzen. Ich war drei- bis viermal pro Woche unglücklich verliebt, die Mädchen wechselten wie Schattenspiele an der Wand.
    Natürlich gab es auch kurze Lichtblicke. Einmal onanierte ich mit verzweifeltem Gesichtsausdruck vor dem Spiegel, in Erinnerung an ein Mädchen aus der Schule, das rote Korkenzieherlocken hatte. Dann, kurz bevor ich zum Höhepunkt kam, musste ich niesen und mein Penis wippte, ohne dass ich ihn berühren musste, albern auf und ab. Ein seltsames Gefühl: Du stehst im Badezimmer, allein auf der Welt, ringsum alles wüst und leer, und dein Körper gesteht dir, um dich abzulenken, dass es Muskeln in deinem Körper gibt, von denen du noch nichts gewusst hast.
    Doch meine Selbstquälerei war im Grunde ein Segen, denn ich dachte kaum mehr an flüchtende Nummernschilder und tote Lehrer. Ich reparierte sogar einige der Dinge, die ich kaputt gemacht hatte, und meine Fantasien beschäftigten sich fast ausschließlich mit unbekannten, schönen, sommerlich ausgehungerten Frauen, die mir mit unauffälligen Gesten bedeuteten, sie an verschiedenen Stellen zu berühren. Sie gingen langsam durch die leer gefegten Räume meiner Vorstellung, um dann an einer in Zeitlupe vor sich hin plätschernden Trinksäule haltzumachen und ihre Lippen unter den Wasserstrahl zu halten. Dann richteten sie sich auf und schauten mich von der Seite her an; ein dicker, glänzender Tropfen perlte von ihren Lippen und niemand leckte ihn ab.
    Ich onanierte in alles, was mir einigermaßen brauchbar erschien. In stinkende Waschlappen, in Taschentücher, in vollgeschriebene Ringmappen, in alte Vokabelhefte, in einen Luftballon, ja sogar in den lasziv offen stehenden Pappmaschee-Mund einer alten Faschingsmaske. Oft musste ich hinterher den Teppich oder den Fußboden reinigen.
    Ich las Bücher über Verschwörungstheorien und beteiligte mich zum ersten Mal an Demonstrationen, obwohl ich nicht einmal verstand, worum es ging, davon abgesehen, dass wir es den Mächtigen ordentlich zeigten.
    Die Mächtigen. Trotz meiner jungen Jahre hatte ich bereits eine ziemlich präzise Vorstellung davon, was das war. Eine Handvoll Männer, die in das hübsche, gesunde Gehirn der westlichen Welt ein gefräßiges Astrozytom aus Ölfirmen und Waffenindustrie gepflanzt hatten; die sich unverhohlen dem Satanismus hingaben; die mit gekaperten und aufgemotzten Nazi-Flugscheiben (die Modelle
Vril
und
Haunebu
) zur Arbeit flogen; die in abgelegenen Wäldern eine riesige Eulenstatue umtanzten und dabei die Namen altsumerischer Gottheiten murmelten; die ein perverses Vergnügen an der Vernichtung von Lebensraum hatten und die ganze Dritte Welt über Nacht in ein Feuerwerk blitzender Machetenklingen verwandeln konnten. Dicke, häufig operierte, alte Männer mit Sauerstoffschläuchen in beiden Nasenlöchern und einem hässlich quakenden Sprachsynthesizer.
    Ich durchstöberte Webseiten nach immer ausgefalleneren Ideen und fand Alien-Autopsien (dieses in körnigem Schwarzweiß gefilmte Mädchen, das wie ein an Progerie verstorbenes Kind aussieht und das von merkwürdigen, wie unter

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