Die Frequenzen
Trance arbeitenden Wissenschaftler-Handpuppen seziert wird, jede Menge schwarzes Blut undPappmaché-Organe, die auf eine Fleischerwaage gelegt werden), das Philadelphia-Experiment, Augenzeugenberichte von Engelserscheinungen, bei denen hinterher immer jemand schwanger zurückblieb, und ein paar Leute, die behaupteten, sie hätten schon den dritten oder vierten Zeitsprung hinter sich. Ein Mann, der die Buchstabensequenzen der hebräischen Bibel in einer gigantischen Matrix nebeneinandergestellt und darin verschiedene quer und vertikal zu lesende Wörter ausfindig gemacht hatte, prophezeite die nukleare Zerstörung Jerusalems für das Jahr 2002.
So.
Kurz darauf trat Lydia in mein Leben, dieses fragile Kartenhaus. Und es fiel unter der Wucht des Tritts in sich zusammen.
– Alles in Ordnung?, frage ich Martina.
– Ja, ich hab mich nur erschreckt.
– Entschuldige. War nur Spaß.
– Schon klar.
Wir schweigen. Rund um uns hölzernes Caféhausgemurmel und die Geräusche von Besteck auf halbleeren Tellern.
– Du kannst die Faust jetzt wieder runter nehmen, sagt Martina. Danke.
An dem Tag, als Lydia mich zum ersten Mal besuchen kam, war ich früh aufgestanden. Das erste Lebewesen, dem ich an diesem Morgen begegnete, war eine flugunfähige Motte,die vor Schreck auf den Teppich fiel, als ich die Vorhänge öffnete. Sie flatterte, was aber nur dazu führte, dass sie sich selbst auf den Rücken drehte. Jetzt lag sie da, auf der unwegsamen, fransigen Oberfläche des Teppichbodens, in der Nähe einer Steckdose, die irgendwie zu den hilflosen Bewegungen des auf dem Rücken liegenden Tieres zu gehören schien, als fremdes, fast außerirdisch wirkendes Artefakt, das mit dümmlichen Knopfaugen auf ihr Missgeschick herabblickte. Mit einem Blatt Papier versuchte ich die Motte aufzuheben, aber es gelang nicht, ich rollte sie nur in der Gegend herum. Ihre entsetzt flimmernden Beine hatten für einen Augenblick Halt gefunden, unwiderstehlich, köstlich, und suchten nun gierig danach; schließlich streckte ich ihr meinen Finger entgegen, doch die Motte schien sich nicht beruhigen zu wollen. Stattdessen tastete sie nur unsinnig an mir herum, sodass ich schließlich keine andere Wahl hatte, als sie mit einer kurzen Bewegung meiner Hand auf das weiße Blatt Papier zu schieben. Irgendetwas in ihr musste dabei einfach kaputt gegangen sein. Vorsichtig balancierte ich sie bis zum Schreibtisch, wo ich sie mir im Morgenlicht genauer besah. Ein wenig bewegte sie sich noch, dabei knickten ihre Flügel in der Mitte ein, als wäre das der Beweis dafür, dass sie immer noch atmete.
Es gab keine Rettung mehr für die Motte, deshalb schimpfte ich ein wenig mit ihr.
Die ganze Nacht hatte sie in den Vorhängen geschlafen (falls Motten überhaupt schliefen) und sich für unsterblich gehalten (falls Motten religiös waren), und nun konnte sie sich nicht einmal mehr vor einem 1,75 Meter großen Säugetier in Sicherheit bringen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich mit dem verendenden Insekt anfangen sollte. Eine Weile erwog ich, es zwischen denFingern oder in einem Taschentuch zu zerdrücken. Aber was, wenn es in frischer Luft wieder zum Leben erwachen würde? Und als hätte es meine Gedanken gelesen, begann sie mit den Flügeln zu flattern.
Ich öffnete das Fenster und legte die Motte draußen auf das Fensterbrett. Selbst in den absurdesten Situationen verstummt mein Symmetriebedürfnis nie ganz, deshalb begann ich die Motte auf dem Rechteck der Fensterbank auszurichten. Als ich mit ihrer Position einigermaßen zufrieden war, löste ich meine Hand. Die Motte schoss plötzlich in die Höhe, wie Menschen, die aus Albträumen erwachen – und im Schreck erschlug ich sie.
Angewidert schüttelte ich meine Hand. Dann wischte ich die Motte, die sich ihre Vernichtung ohne weiteres hatte gefallen lassen, in ein Taschentuch.
Ich hatte Lydia zu mir nach Hause eingeladen, weil ich mit ihr allein sein wollte. Es war das erste Mal, dass ich mit einem Mädchen allein in meinem Zimmer sein und diesen Gedanken haben würde:
Ich bin mit einem Mädchen allein in meinem Zimmer
.
Als sie endlich kam, redete ich lauter Unsinn und zeigte ihr verschiedene Auszeichnungen, die ich auf Mathematik-Olympiaden bekommen hatte. Vierter Preis. Zweiter Preis. Lobende Erwähnung. Sie sagte, sie sei furchtbar schlecht in Mathematik.
– Ich ja eigentlich auch, sagte ich.
Natürlich stimmte das nicht. Ich war ganz gut. Ich war sogar der intelligenteste
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