Die Freude am Leben
fiebrige Leidenschaft riß ihn fort, er hatte sich voll und ganz mit Feuereifer dem Gedanken hingegeben, ein genialer Arzt zu werden, dessen Erscheinen die Welten erschüttern würde.
Nachdem Pauline ihm wie ein kleines Mädchen, das noch kein Hehl aus seinen Zärtlichkeiten macht, um den Hals gefallen war, hatte sie vor allem mit Verwunderung gefühlt, daß er anders geworden war. Es betrübte sie fast, daß er nicht mehr von Musik sprach, nicht mal ein kleines bißchen, gleichsam zur Erholung. Konnte man denn wirklich aufhören, etwas zu lieben, was man einmal sehr geliebt hatte? An dem Tage, da sie ihn nach seiner Sinfonie fragte, begann er zu scherzen und sagte, mit diesen Albernheiten sei es nun vorbei; und sie wurde ganz traurig. Dann sah sie, wie er ihr gegenüber verlegen war, ein häßliches Lachen lachte und wie seine Augen, seine Gebärden von zehn Monaten eines Lebens sprachen, von dem man kleinen Mädchen nichts erzählen konnte. Er hatte seinen Koffer selber ausgepackt, um seine Bücher zu verbergen, Romane, naturwissenschaftliche Werke voller Kupferstiche. Er wirbelte Pauline nicht mehr wie einen Kreisel herum, daß ihre Röcke flogen, und war zuweilen ungehalten, wenn sie durchaus in sein Zimmer kommen und dort leben wollte. Allerdings war sie kaum größer geworden, sie schaute ihn mit ihren klaren Augen, den Augen eines unschuldigen Mädchens, frei an; und nach acht Tagen war ihre jungenhafte Kameradschaft wieder neu geknüpft. Der rauhe Seewind wusch ihn rein von den Gerüchen des Quartier Latin8, er ward wieder zum Kind, wenn er mit diesem gesunden Kinde voll klingender Fröhlichkeit zusammen war. Alles wurde wiederaufgenommen, alles begann von neuem, die Spiele rund um den großen Tisch, das Herumgaloppieren mit Mathieu und Minouche hinten im Gemüsegarten ebenso wie die Ausflüge zur Schatzbucht und das unbefangene Baden in der Sonne, bei dem ihnen die Hemden freudig lärmend wie Fahnen an die Beine klatschten. Gerade in diesem Jahr verbrachte Louise, die im Mai nach Bonneville gekommen war, ihre Ferien in der Nähe von Rouen bei anderen Freunden. Zwei köstliche Monate gingen dahin, keine Mißstimmung verdarb ihre Freundschaft.
An dem Tag im Oktober, an dem Lazare seinen Koffer packte, sah Pauline zu, wie er die Bücher aufstapelte, die er mitgebracht hatte und die im Schrank verschlossen geblieben waren, ohne daß er auch nur auf den Gedanken gekommen wäre, ein einziges aufzuschlagen.
»Du nimmst sie also wieder mit?« fragte sie mit tief betrübter Miene.
»Natürlich«, erwiderte er. »Die brauch ich für mein Studium ... Donnerwetter noch mal, wie werde ich arbeiten! Das alles muß ich mir eintrichtern.«
Totenstille senkte sich wieder auf das kleine Haus in Bonneville, die einförmigen Tage flossen dahin und brachten angesichts des ewigen Rhythmus des Ozeans die täglichen Gewohnheiten wieder. Doch in jenem Jahr gab es in Paulines Leben ein Ereignis, das sich besonders hervorhob. Im Juni ging sie im Alter von zwölfeinhalb Jahren zu ihrer Ersten heiligen Kommunion. Langsam hatte die Religion von ihr Besitz ergriffen, eine ernste Religion, über die Antworten des Katechismus erhaben, die sie stets hersagte, ohne sie zu begreifen. In ihrem scharf denkenden jungen Kopf hatte sie sich schließlich von Gott die Vorstellung eines allmächtigen, allwissenden Herrn gemacht, der alles lenkte, so daß auf Erden alles nach der Gerechtigkeit vor sich gehe; und diese vereinfachte Auffassung genügte ihr, um sich mit Abbé Horteur gut zu verstehen. Der war ein Bauernsohn, ein Hartschädel, in den allein der Buchstabe des Evangeliums Eingang gefunden hatte und der dahin gekommen war, sich mit den äußerlichen Andachtsübungen, mit der guten Ordnung einer wohlanständigen Frömmigkeit zufriedenzugeben. Was ihn selbst betraf, so sorgte er für sein Seelenheil; was seine Pfarrkinder anging, so war ihnen eben nicht zu helfen, wenn sie sich der Verdammnis anheimgaben! Fünfzehn Jahre lang hatte er erfolglos versucht, ihnen Angst und Schrecken einzujagen, er verlangte von ihnen nur noch die Höflichkeit, an den hohen Feiertagen zur Kirche heraufzukommen. Ganz Bonneville ging aus einem Rest von Gewohnheit zur Kirche hinauf, trotz der Sünde, in der das Dorf verkam. Seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Seelenheil der anderen ersetzte dem Priester die Duldsamkeit. Er ging jeden Sonnabend zu Chanteau, um mit ihm Dame zu spielen, obgleich der Bürgermeister, dank seiner Gicht entschuldigt, niemals den Fuß
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