Die Freude am Leben
Wort. Als gegen Mitte September Louise kommen sollte, sprach er plötzlich davon, nach Paris zurückzukehren, wobei er die Vorbereitung auf sein Examen zum Vorwand nahm: Die beiden kleinen Mädchen würden ihn zu Tode langweilen, ebensogut könne er das Leben des Quartier Latin einen Monat früher wiederaufnehmen. Pauline war um so sanfter geworden, je mehr er sie kränkte. Zeigte er sich schroff, freute er sich daran, sie zur Verzweiflung zu bringen, so sah sie ihn mit den zärtlichen, lächelnden Augen an, mit denen sie Chanteau besänftigte, wenn dieser in der Qual eines Anfalls schrie. Ihrer Meinung nach mußte ihr Cousin krank sein, er sah das Leben an wie die Alten.
Am Abend vor seiner Abreise bekundete Lazare eine solche Freude, Bonneville zu verlassen, daß Pauline schluchzte.
»Du hast mich nicht mehr lieb!«
»Bist du dumm! Muß ich nicht meinen Weg machen? Wie kann ein großes Mädchen so heulen!«
Schon fand sie ihren Mut wieder und lächelte.
»Arbeite schön in diesem Jahr, damit du zufrieden zurückkommst.«
»Oh! Es ist unnütz, so viel zu arbeiten. Das Examen ist vielleicht blöd! Wenn ich nicht bestanden habe, so deshalb, weil ich mir nicht die Mühe gemacht habe, es bestehen zu wollen ... Ich werde das schon erledigen, weil ich kein Vermögen besitze und nicht die Hände in den Schoß legen kann, das einzig Vernünftige, was ein Mensch zu tun vermag.«
Gleich in den ersten Oktobertagen, nachdem Louise nach Caen zurückgekehrt war, begann Pauline wieder mit dem Unterricht bei ihrer Tante. Der Lehrstoff des dritten Jahres sollte vor allem die von anstößigen Stellen gereinigte Geschichte Frankreichs und die Mythologie zum Gebrauch junger Mädchen beinhalten, ein höherer Unterricht, der sie befähigen sollte, die Gemälde in den Museen zu verstehen. Aber die Kleine, die im Vorjahr so fleißig gewesen, schien jetzt einen schweren Kopf zu haben: Sie schlief zuweilen bei ihren Schulaufgaben ein, jähe Hitzewellen färbten ihr Gesicht purpurn. Ein toller Wutanfall gegen Véronique, die sie, wie sie behauptete, nicht liebte, hatte sie für zwei Tage ans Bett gefesselt. Außerdem vollzogen sich in ihr Veränderungen, die sie verwirrten, die langsame Entwicklung ihres ganzen Körpers, Rundungen entstanden, gleichsam schwellend und schmerzend, dunkle Schatten, leichter Flaum an der verborgensten und heikelsten Stelle ihrer Haut. Wenn sie sich abends beim Zubettgehen mit einem verstohlenen Blick prüfend betrachtete, empfand sie ein Unbehagen, eine Verwirrung, die sie veranlaßte, rasch die Kerze auszublasen. Sie bekam eine klangvollere Stimme, die sie häßlich fand, sie gefiel sich selbst nicht mehr, sie verbrachte die Tage in einer Art nervöser Erwartung, ohne zu wissen, worauf sie eigentlich hoffte, und ohne zu wagen, mit jemand über diese Dinge zu sprechen.
Gegen Weihnachten schließlich beunruhigte Paulines Zustand Frau Chanteau. Die Kleine klagte über heftige Kreuzschmerzen, ein Gefühl von Zerschlagenheit drückte sie nieder, Fieberanfälle stellten sich ein. Als Doktor Cazenove, der ihr großer Freund geworden war, ihr einige Fragen gestellt hatte, nahm er die Tante beiseite, um ihr zu raten, ihre Nichte aufzuklären. Die steigende Flut der Geschlechtsreife war das alles; und er sagte, er habe junge Mädchen gesehen, die angesichts der Katastrophe dieses Blutstroms vor Entsetzen krank wurden. Die Tante sträubte sich zunächst, weil sie diese Vorsicht übertrieben fand und ihr solche Vertraulichkeiten zuwider waren: Ihr Erziehungssystem war es, das Kind in völliger Unwissenheit zu belassen und peinliche Tatsachen zu vermeiden, solange sie sich nicht von selbst aufdrängten. Da jedoch der Arzt darauf drang, versprach sie zu reden, tat allerdings am selben Abend nichts dergleichen, verschob es dann von Tag zu Tag. Die Kleine war ja nicht ängstlich; und außerdem waren viele andere auch nicht aufgeklärt worden. Es würde immer noch Zeit sein, ihr einfach zu sagen, daß die Dinge nun einmal so seien, ohne sich im voraus auf unschickliche Fragen und Erklärungen einzulassen.
Eines Morgens hörte Frau Chanteau in dem Augenblick, da sie ihr Schlafzimmer verließ, aus Paulines Zimmer Wehklagen, und sie ging sehr beunruhigt hinauf. Die Kleine saß mitten in ihrem Bett, hatte die Decken zurückgeworfen und schrie, weiß vor Schreck, ununterbrochen nach ihrer Tante: Und sie spreizte ihre blutbefleckte Scham, und von einer Bestürzung betroffen, deren Schock ihre ganze gewohnte Tapferkeit
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