Die Freude am Leben
geworden, als sie Louise an Lazares Hals sah. Und als die andere sie fröhlich küßte, erwiderte sie den Kuß mit zitternden Lippen.
»Was hast du denn?« fragte ihre Tante. »Ist dir kalt?«
»Ja, ein bißchen, der Wind ist nicht gerade warm«, erwiderte sie und wurde ganz rot bei dieser Lüge.
Bei Tisch aß sie nicht. Sie ließ ihre Blicke nicht mehr von den anderen, und die Farbe ihrer Augen wurde zu einem wilden Schwarz, sobald sich ihr Cousin, ihr Onkel oder auch nur Véronique mit Louise beschäftigten. Aber vor allem schien es sie zu schmerzen, als Mathieu beim Nachtisch seine gewohnte Runde machte und seinen dicken Kopf der Neuangekommenen auf den Schoß legte. Vergeblich rief sie ihn, er ließ nicht ab von Louise, die ihn mit Zucker geradezu vollstopfte.
Man hatte sich erhoben, Pauline war verschwunden, als Véronique, die den Tisch abräumte, aus der Küche zurückkam und mit triumphierender Miene sagte:
»Ach ja! Madame findet ihre Pauline ja immer so gut! Gehen Sie doch bloß auf den Hof gucken.«
Alle gingen hin. Hinter dem Wagenschuppen verborgen, drückte Pauline Mathieu an die Wand, und außer sich, fortgerissen von einem tollen Anfall von Wildheit, hieb sie mit der ganzen Kraft ihrer kleinen Fäuste auf seinen Schädel ein. Ganz benommen stand der Hund da, ohne sich zu wehren, und hielt den Kopf gesenkt. Die Familie stürzte herzu, aber Pauline schlug immer weiter, man mußte sie forttragen, und sie war steif, leblos, so krank, daß man sie sogleich zu Bett brachte und ihre Tante einen Teil der Nacht bei ihr verbringen mußte.
»Sie ist wirklich reizend, ganz reizend«, sagte Véronique immer wieder, hoch erfreut, daß sie endlich einen Fehler an dieser Perle entdeckt hatte.
»Ich erinnere mich, daß man mir in Paris von ihren Wutanfällen erzählt hat«, sagte Frau Chanteau. »Sie ist eifersüchtig, das ist eine häßliche Sache ... Seit dem halben Jahr, das sie hier ist, hatte ich gewisse kleine Vorfälle wohl bemerkt; aber wirklich, den Hund halbtot schlagen, das geht zu weit.«
Als Pauline am nächsten Morgen Mathieu begegnete, umschlang sie ihn mit ihren zitternden Armen, küßte ihn unter einer solchen Tränenflut auf die Schnauze, daß man fürchtete, der Anfall könne wiederkommen. Dennoch besserte sie sich nicht, es war ein innerer Druck, der ihr alles Blut ihrer Adern ins Gehirn trieb. Es schien, als kämen diese eifersüchtigen Gewaltausbrüche von weit her über sie, von irgendeinem Vorfahren mütterlicherseits, die schöne Ausgeglichenheit ihrer Mutter und ihres Vaters überspringend, deren lebendes Abbild sie war. Da sie für ihre zehn Jahre sehr vernünftig war, erklärte sie selber, daß sie alles nur Erdenkliche täte, um gegen ihre Wutanfälle anzukämpfen, doch es gelänge ihr nicht. Hinterher war sie darüber traurig, wie über ein Übel, dessen man sich schämt.
»Ich habe euch alle so lieb, warum habt ihr andere lieb?« erwiderte sie und barg ihren Kopf an der Schulter ihrer Tante, die ihr in ihrem Zimmer Vorhaltungen machte.
Daher litt Pauline trotz aller Mühe, die sie sich gab, sehr unter Louises Gegenwart. Seit man ihr Kommen angekündigt, hatte Pauline sie mit unruhiger Neugier erwartet, und jetzt zählte sie die Tage, beseelt von dem ungeduldigen Wunsch, sie möge bald wieder abreisen. Übrigens konnte sie sich des Zaubers nicht erwehren, der von Louise ausging, die hübsch angezogen war, sich wie ein kluges, erwachsenes Fräulein benahm und die schmeichlerische Freundlichkeit eines Kindes an den Tag legte, das zu Hause wenig Liebkosungen erfährt; war aber Lazare anwesend, so war es gerade dieser Zauber eines kleinen Weibes, dieses Erwachen des Unbekannten, was Pauline verwirrte und erregte. Der junge Mann hingegen gab Pauline den Vorzug; er neckte die andere, sagte, sie langweile ihn mit ihrem vornehmen Getue, meinte, man solle sie ruhig ganz allein die Dame spielen lassen, damit er und Pauline weiter ungezwungen zusammen sein könnten. Die wilden Spiele wurden aufgegeben, man sah sich im Zimmer Bilder an, man ging gemessenen Schrittes am Strand spazieren. Das waren zwei völlig verpfuschte Wochen.
Eines Morgens erklärte Lazare, er reise fünf Tage früher ab. Er wollte sich in Paris einrichten, er würde dort einen seiner ehemaligen Schulkameraden aus Caen wiedertreffen. Und Pauline, die der Gedanke an diese Abreise seit einem Monat zur Verzweiflung brachte, unterstützte lebhaft die neue Entscheidung ihres Cousins, half mit fröhlicher Tatkraft ihrer
Weitere Kostenlose Bücher