Die Freude am Leben
hinweggerafft hatte, sah sie sich an, was da aus ihr herausgeflossen war.
»Oh, Tante! Oh, Tante!«
Frau Chanteau hatte auf den ersten Blick begriffen.
»Es ist nichts, mein Liebling. Beruhige dich.«
Aber Pauline, die sich in der erstarrten Haltung eines verwundeten Weibes noch immer betrachtete, hörte sie nicht einmal.
»Oh, Tante! Ich habe gefühlt, daß ich naß war, und sieh nur, sieh nur, es ist Blut! Alles ist zu Ende, die Bettücher sind ganz voller Blut.«
Ihre Stimme versagte, sie glaubte, ihre Adern entleerten sich in diesem roten Strom. Der Schrei ihres Cousins kam über ihre Lippen, jener Schrei, dessen Hoffnungslosigkeit angesichts des beängstigenden grenzenlosen Himmels sie nicht verstanden hatte.
»Alles ist zu Ende, ich werde sterben.«
Bestürzt suchte die Tante nach schicklichen Worten, nach einer Lüge, die sie beruhigen sollte, ohne ihr etwas zu erklären.
»Nun, nun, mach dir keine Sorge, ich wäre doch viel unruhiger, nicht wahr, wenn du in Gefahr wärest ... Ich schwöre dir, daß das allen Frauen so geht. Das ist wie Nasenbluten ...«
»Nein, nein, du sagst das nur, um mich zu beruhigen ... Ich werde sterben, ich werde sterben.«
Es war keine Zeit mehr. Als Doktor Cazenove kam, befürchtete er ein Gehirnfieber. Frau Chanteau hatte die Kleine wieder hingelegt und ihr dabei gesagt, sie müsse sich eigentlich schämen, so viel Angst zu haben. Tage vergingen, Pauline war verwundert aus der Krise hervorgegangen und dachte von nun an über neue und verworrene Dinge nach, hegte tief in ihrem Innern heimlich eine Frage, auf die sie eine Antwort suchte.
In der folgenden Woche machte sich Pauline wieder an die Arbeit und schien sich für die Göttersagen zu begeistern. Sie kam nicht mehr aus Lazares großem Zimmer heraus, das noch immer ihr Studierzimmer war; man mußte sie zu jeder Mahlzeit rufen, und sie erschien geistesabwesend, vom unbeweglichen Sitzen steif geworden. Oben aber lagen die Göttersagen am äußersten Ende des Tisches herum, denn Pauline saß tagelang nur über den im Schrank zurückgelassenen medizinischen Werken, die Augen vom Wissensdrang geweitet, die Stirn in beide Hände gestützt, die vor Eifer eiskalt wurden. Lazare hatte in den schönen Tagen der Begeisterung Bücher gekauft, die er nicht sofort brauchte, das »Lehrbuch der Physiologie« von Longet10, die »Beschreibende Anatomie« von Cruveilhier11; und gerade diese waren dageblieben, während er seine Arbeitsbücher wieder mitgenommen hatte. Sie holte sie hervor, sowie ihre Tante den Rücken kehrte, stellte sie dann beim geringsten Geräusch ohne Hast wieder an ihren Platz, nicht wie ein schuldbewußtes, neugieriges Mädchen, sondern wie eine fleißig arbeitende Schülerin, deren Neigung zur Wissenschaft sich die Eltern entgegenstellten. Zunächst hatte sie nichts verstanden, wurde abgeschreckt durch die Fachausdrücke, die sie im Wörterbuch suchen mußte. Da sie dann erraten hatte, daß man eine Methode brauche, hatte sie sich verbissen auf die »Beschreibende Anatomie« gestürzt, bevor sie zum »Lehrbuch der Physiologie« überging. So lernte dieses vierzehnjährige Mädchen wie eine Schulaufgabe, was Jungfrauen bis zur Hochzeitsnacht verheimlicht wird. Sie blätterte in den Bildtafeln der »Beschreibenden Anatomie«, diesen großartigen Bildtafeln von blutiger Realität; sie verweilte bei jedem der Organe, erforschte die geheimsten, jene, die man bei Mann und Weib zum Anlaß der Scham gemacht hatte; und sie empfand keine Scham, sie war ernst, ging von den Organen, die das Leben geben, über zu den Organen, die es regeln, wurde durch ihre gesunde Lebensauffassung den sinnlichen Vorstellungen entrückt und vor ihnen gerettet. Die langsame Entdeckung dieser menschlichen Maschine erfüllte sie mit Bewunderung. Sie las das alles leidenschaftlich gern, niemals hatten ihr früher die Märchen und auch »Robinson« nicht solchermaßen den Verstand geweitet. Das »Lehrbuch der Physiologie« war dann gleichsam die Erläuterung zu den Bildtafeln, nichts blieb ihr verborgen. Sie fand sogar ein »Handbuch der Pathologie und der medizinischen Heilkunde«, sie drang bis zu den grauenvollen Krankheiten, bis zur Behandlungsweise jeglicher Zersetzungserscheinung vor. Vieles war zu hoch für sie, sie wußte von sich aus einzig und allein, was man wissen mußte, um den Leidenden Linderung zu bringen. Ihr Herz brach vor Mitleid, sie träumte wieder ihren alten Traum, alles zu erkennen, um alles zu heilen.
Und jetzt wußte
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