Die Freude am Leben
stahl, während sie unten einen Kranken pflegte! Sie hatte sie an den Schultern gepackt und schüttelte sie, am liebsten hätte sie sie geschlagen.
»Sag, warum hast du das getan? Das ist eine Gemeinheit!«
Außer sich, mit flackernden Augen, stammelte Louise:
»Er hat mich festgehalten, er hat mir die Knochen zerbrochen.«
»Er? Was du nicht sagst! Er wäre in Tränen ausgebrochen, wenn du ihn nur zurückgestoßen hättest.«
Der Anblick des Zimmers peitschte ihren Groll noch auf, dieses Zimmers von Lazare, in dem sie sich geliebt hatten, in dem auch sie unter dem glühenden Atem des jungen Mannes das Blut in ihren Adern hatte brennen fühlen. Was sollte sie diesem Weibe nur antun, um sich zu rächen? Stumpfsinnig vor Verlegenheit, entschloß Lazare sich endlich, einzugreifen, als sie Louise so heftig fahrenließ, daß diese mit den Schultern an den Schrank schlug.
»Da! Ich habe Angst vor mir ... Mach, daß du fortkommst!«
Und von nun an hatte sie nur noch dieses Wort, verfolgte Louise durch das Zimmer, warf sie hinaus auf den Flur, trieb sie die Treppe hinunter und warf ihr immer wieder den gleichen Schrei wie Ohrfeigen hinterher.
»Mach, daß du fortkommst! Mach, daß du fortkommst! Pack deine Sachen und mach, daß du fortkommst!«
Indessen war Frau Chanteau auf dem Treppenabsatz des ersten Stockwerks stehengeblieben. Die Geschwindigkeit, mit der sich der Auftritt abspielte, hatte ihr nicht erlaubt, sich ins Mittel zu legen. Aber sie fand ihre Stimme wieder; mit einer Handbewegung gab sie ihrem Sohn den Befehl, sich in seinem Zimmer einzuschließen; dann versuchte sie Pauline zu beruhigen, indem sie zunächst Überraschung heuchelte. Nachdem Pauline Louise bis in ihr Zimmer getrieben hatte, wiederholte sie immer wieder:
»Mach, daß du fortkommst! Mach, daß du fortkommst!«
»Was heißt das, sie soll machen, daß sie fortkommt! Hast du den Kopf verloren?«
Da erzählte das junge Mädchen stammelnd die Geschichte. Ekel erfaßte sie, das war für ihre aufrechte Natur die schmählichste Tat, für die es keine Entschuldigung, keine Verzeihung gab; und je mehr sie darüber nachdachte, um so wütender wurde sie, empört in ihrem Abscheu vor der Lüge und in der Treue ihrer Liebe. Wenn man sich einmal verschenkt hatte, nahm man sich nicht wieder zurück.
»Mach, daß du fortkommst! Pack sofort deinen Koffer ... Mach, daß du fortkommst!«
Louise, die verstört war und kein Wort zu ihrer Verteidigung fand, hatte schon ein Schubfach aufgezogen, um ihre Hemden herauszunehmen. Aber Frau Chanteau wurde böse.
»Bleib, Louisette! Schließlich bin ich doch wohl noch Herr in meinem Hause? Wer wagt hier zu befehlen und erlaubt sich, die Leute fortzuschicken? Das ist ja widerwärtig, wir sind doch nicht in der Markthalle!«
»Du verstehst also nicht?« schrie Pauline. »Ich habe sie da oben mit Lazare überrascht ... Er küßte sie.«
Die Mutter zuckte die Achseln. Aller Groll, der sich in ihr aufgespeichert hatte, entfuhr ihr in einem Satz schändlichen Verdachtes.
»Sie spielten, was ist schon Schlechtes dabei? Haben wir etwa, als du im Bett lagst und er dich pflegte, die Nase in eure Geschichten gesteckt?«
Jäh erlosch die Erregung des jungen Mädchens. Sie stand unbeweglich, sehr bleich da, betroffen von dieser Anschuldigung, die sich gegen sie selbst kehrte. Jetzt wurde sie also zur Schuldigen, und ihre Tante schien abscheuliche Dinge zu glauben!
»Was willst du damit sagen?« murmelte sie. »Wenn du das gedacht hättest, hättest du es zweifellos nicht in deinem Hause geduldet!«
»Nun, ihr seid groß genug! Aber ich will nicht, daß mein Sohn als liederlicher Mensch endet ... Laß die Personen in Frieden, die noch ehrbare Frauen abgeben können.«
Pauline blieb einen Augenblick stumm, ihre großen reinen Augen starr auf Frau Chanteau gerichtet, die die ihren abwandte. Dann ging sie in ihr Zimmer hinauf und sagte kurz:
»Gut, dann gehe ich.«
Von neuem trat Schweigen ein, ein lastendes Schweigen, in dem das ganze Haus zu versinken schien. Und in diesem plötzlichen Frieden stieg von neuem die Klage des Onkels auf, die Klage eines verlassenen, sterbenden Tieres. Unaufhörlich schwoll sie an, löste sich von den anderen Geräuschen, die sie schließlich übertönte.
Jetzt bereute Frau Chanteau den Verdacht, der ihr entfahren war. Sie spürte den nicht wiedergutzumachenden Schimpf, den er bedeutete, sie empfand Unruhe bei dem Gedanken, Pauline werde ihre Drohung, sofort abzureisen, wahr machen. Bei
Weitere Kostenlose Bücher