Die Freude am Leben
Flur zu öffnen und zur Treppe zu gehen, drang ein jämmerlicher Laut herein. Es war das unaufhörliche, entnervende Geschrei des Onkels. Frau Chanteau, die ihr folgte, schien ein Einfall zu kommen, und mit halblauter Stimme begann sie eindringlich von neuem:
»Sag ihr nur, sie könne meinen Mann nicht in diesem Zustand lassen ... Hörst du?«
»Oh! Was das betrifft«, gab Véronique zu, »er schreit feste, das ist wohl wahr.«
Sie ging hinauf, während Frau Chanteau, die mit vorgerecktem Kopf zum Zimmer ihres Gatten hinhorchte, sich wohl hütete, dessen Tür wieder zu schließen. Die Klagelaute stürzten sich ins Treppenhaus, verstärkt durch den Widerhall in den Stockwerken. Oben fand das Hausmädchen das Fräulein im Begriff zu gehen, nachdem sie das bißchen notwendige Wäsche zu einem Paket zusammengeschnürt hatte, entschlossen, das übrige gleich am nächsten Tag von Vater Malivoire abholen zu lassen. Sie hatte sich beruhigt, war noch sehr blaß und verzweifelt, doch von kühler Vernunft, ohne jeden Zorn.
»Entweder sie oder ich«, entgegnete sie auf alle Worte Véroniques, wobei sie es sogar vermied, Louises Namen zu nennen.
Als Véronique diese Antwort Frau Chanteau überbrachte, befand sich diese gerade im Zimmer von Louise, die sich angekleidet hatte und ebenfalls hartnäckig darauf bestand, sogleich abzureisen; sie zitterte und schrak beim geringsten Geräusch einer Tür zusammen. Da mußte Frau Chanteau sich fügen; sie ließ aus Verchemont den Wagen des Bäckers holen und beschloß, selber das junge Mädchen zu seiner Tante Léonie zu begleiten, die in Arromanches wohnte; man würde dieser schon eine Geschichte erzählen und den heftigen Anfall Chanteaus, dessen Geschrei unerträglich wurde, zum Vorwand nehmen.
Nach der Abfahrt der beiden Frauen, die Lazare in den Wagen gesetzt hatte, schrie Véronique aus vollem Halse von der Vorhalle aus:
»Sie können herunterkommen, Mademoiselle Pauline, es ist niemand mehr da.«
Das Haus schien leer, die lastende Stille hatte sich wieder herabgesenkt, und das fortwährende Jammergeschrei des Kranken erscholl nur noch lauter. Als Pauline die letzte Stufe hinabschritt, stand ihr Lazare, der vom Hof zurückkam, plötzlich gegenüber. Sein ganzer Körper wurde von einem nervösen Zittern befallen. Er blieb eine Sekunde lang stehen, er wollte sich zweifellos anklagen und um Verzeihung bitten. Doch Tränen erstickten ihn, und er lief ungestüm wieder hinauf in sein Zimmer, ohne daß er etwas zu sagen vermocht hätte. Sie war mit trockenen Augen und ernstem Gesicht in das Zimmer ihres Onkels getreten.
Schräg auf dem Bett liegend, streckte Chanteau noch immer den Arm aus und warf den Kopf über das Kopfpolster zurück. Er wagte sich nicht mehr zu rühren, er mochte die Abwesenheit des jungen Mädchens nicht einmal bemerkt haben, da er die Augen fest geschlossen hielt und den Mund aufriß, um nach Belieben zu schreien. Keines der Geräusche im Hause drang zu ihm, seine einzige Beschäftigung war es, seine Klage auszustoßen, bis ihm der Atem ausging. Nach und nach zog er sie verzweifelt so sehr in die Länge, daß er Minouche lästig wurde, von der man am Morgen wieder einmal vier Junge ins Wasser geworfen hatte und die schon nicht mehr daran dachte und mit friedlicher Miene auf einem Sessel lag und schnurrte.
Als Pauline ihren Platz wieder einnahm, brüllte der Onkel so laut, daß die Katze sich mit unruhig gespitzten Ohren erhob. Sie sah ihn starr an, mit dem Unwillen einer weisen Person, deren Ruhe man stört. Wenn man nicht mehr in Frieden schnurren konnte, dann wurde es unmöglich! Und sie zog sich mit hocherhobenem Schwanz zurück.
Kapitel VI
Als Frau Chanteau am Abend einige Minuten vor dem Essen zurückkehrte, war von Louise nicht mehr die Rede. Sie rief nur Véronique, damit diese ihr die Stiefel ausziehe. Der linke Fuß tat ihr weh.
»Wahrhaftig, das ist nicht verwunderlich!« murmelte das Hausmädchen. »Er ist geschwollen.«
In der Tat waren die Nähte des Leders auf dem weichen weißen Fleisch rot abgezeichnet. Lazare, der herunterkam, sah es sich an.
»Du wirst zuviel gelaufen sein«, sagte er.
Aber sie war kaum durch Arromanches gegangen. Im übrigen litt sie an jenem Tag an Luftmangel, wurde von Atembeschwerden befallen, die seit einigen Monaten häufiger auftraten. Jetzt gab sie den Stiefeln die Schuld.
»Diese Schuhmacher können sich nicht entschließen, den Spann hoch genug zu machen ... Sowie meine Schuhe zu fest geschnürt sind,
Weitere Kostenlose Bücher