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Die Freude am Leben

Die Freude am Leben

Titel: Die Freude am Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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ist es für mich eine Qual.«
    Und da sie in ihren Pantoffeln nicht mehr litt, beunruhigte man sich nicht weiter. Am nächsten Morgen hatte die Schwellung den Knöchel erreicht. Aber in der folgenden Nacht verschwand sie völlig.
    Eine Woche verging. Vom ersten Abendessen an, das Pauline am Tage der Katastrophe wieder mit Mutter und Sohn zusammengeführt, hatte sich jeder bemüht, wieder die Alltagsmiene aufzusetzen. Keine Anspielung wurde gemacht, es schien, als gäbe es nichts Neues zwischen ihnen. Das Familienleben ging mechanisch weiter, wobei sich dieselben gewohnten Zärtlichkeiten abspielten, der übliche Morgen und Abendgruß, die zu bestimmter Stunde zerstreut gegebenen Küsse. Es war jedoch eine Erleichterung, als man Chanteau bis an den Tisch rollen konnte. Dieses Mal blieben seine Knie steif, es war ihm unmöglich, aufzustehen. Aber er genoß deshalb nicht minder die relative Ruhe, die der Schmerz ihm ließ, und dies so sehr, daß ihn weder die Freude noch die Traurigkeit der Seinen berührte, er war völlig dem Egoismus seines leiblichen Befindens hingegeben. Als Frau Chanteau es gewagt hatte, ihn von der überstürzten Abreise Louises zu unterrichten, hatte er sie angefleht, ihm nicht von diesen betrüblichen Dingen zu sprechen. Seit Pauline nicht mehr an das Zimmer ihres Onkels gefesselt war, versuchte sie sich zu beschäftigen, ohne daß es ihr gelang, ihre Qual zu verbergen. Die Abende vor allem wurden quälend, das Unbehagen drang durch den vorgetäuschten gewohnten Frieden. Es war wohl das Leben von früher mit den täglich wiederkehrenden kleinen Ereignissen; doch aus gewissen nervösen Gesten, selbst aus einem Schweigen spürten alle den inneren Riß heraus, die Wunde, von der sie nicht sprachen und die immer größer wurde.
    Lazare hatte sich zuerst verachtet. Die moralische Überlegenheit der so aufrichtigen, so gerechten Pauline erfüllte ihn mit Scham und Zorn. Warum hatte er nicht den Mut, sich ihr offen zu bekennen und sie um Verzeihung zu bitten? Er hätte ihr den Vorfall dargelegt, hätte ihr von der Überrumpelung seines Fleisches erzählt, von dem Duft des koketten Weibes, an dem er sich berauscht; und sie hatte eine zu großzügige Gesinnung, um nicht zu verstehen. Aber eine unüberwindliche Befangenheit hinderte ihn, er fürchtete, in einer klärenden Auseinandersetzung, bei der er vielleicht wie ein Kind stammeln würde, in den Augen des jungen Mädchens noch mehr zu verlieren. Außerdem war auf dem Grund seines Zögerns die Angst vor einer neuen Lüge, denn Louise verfolgte ihn noch immer, er sah sie wieder vor sich, besonders des Nachts, mit dem brennenden Bedauern, sie nicht besessen zu haben, als er sie unter seinen Lippen schwach werden fühlte. Gegen seinen Willen führten ihn seine langen Spaziergänge unaufhörlich in die Gegend von Arromanches. Eines Abends drang er bis zu dem Häuschen der Tante Léonie vor, er strich um die Mauer und floh eilig beim Geräusch eines Fensterladens, fassungslos über die schlechte Handlung, die er beinahe begangen hätte. Dieses Bewußtsein seiner Unwürdigkeit verdoppelte seine Befangenheit: Er verurteilte sich, ohne sein Verlangen töten zu können; stündlich begann der Widerstreit von neuem, niemals hatte er so sehr unter seiner Unentschlossenheit gelitten. Es blieb ihm nur so viel Anständigkeit und Kraft, Pauline aus dem Wege zu gehen und sich die letzte Niedertracht der falschen Schwüre zu ersparen. Vielleicht liebte er sie noch, aber das aufreizende Bild der anderen war ständig da, löschte die Vergangenheit aus und versperrte die Zukunft.
    Pauline ihrerseits wartete, daß er sich entschuldigte. In ihrer ersten Empörung hatte sie sich geschworen, nicht zu verzeihen. Dann hatte sie im stillen darunter gelitten, daß sie nicht Gelegenheit hatte zu verzeihen. Warum schwieg er mit fieberhafter Miene und war stets draußen, als fürchtete er, mit ihr allein zu bleiben? Sie war bereit, ihn anzuhören, alles zu vergessen, wenn er nur ein wenig Reue zeigte. Da die erhoffte Erklärung nicht kam, zerbrach sie sich den Kopf, ging sie von einer Vermutung zur anderen über, während ein Gefühl des Stolzes sie schweigen ließ; und während die peinlichen Tage träge dahinflossen, gelang es ihr, sich so weit zu überwinden, daß sie ihre Haltung eines tatkräftigen Mädchens wiederfand; doch diese schöne mutige Ruhe verbarg eine stete Qual, sie schluchzte des Abends in ihrem Zimmer und erstickte ihre Klagen in ihrem Kopfkissen. Niemand sprach

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