Die Freude am Leben
von der Heirat, obgleich sichtlich alle daran dachten. Der Herbst nahte, was würde man tun? Jeder vermied es, sich zu äußern, man schien die Entscheidung auf später zu verschieben, wenn man es wieder wagen würde, davon zu sprechen.
Es war dies in Frau Chanteaus Leben die Zeit, da sie ihre Ruhe vollends verlor. Von jeher hatte sie sich selbst zerfleischt; aber das dumpfe Werk, das in ihr die guten Empfindungen zerbröckelte, schien den äußersten Grad der Zerstörung erreicht zu haben; niemals war sie so unausgeglichen erschienen, von einem solchen nervösen Fieber verheert. Die Notwendigkeit, sich Zwang aufzuerlegen, verschlimmerte ihr Übel noch mehr. Sie litt am Gelde, es war wie eine nach und nach angewachsene Wut auf das Geld, die ihr Herz und Verstand raubte. Immer wieder fiel sie über Pauline her, sie gab ihr jetzt die Schuld an Louises Abreise, wie an einem Diebstahl, durch den ihr Sohn ausgeplündert worden war. Es war dies eine blutende Wunde, die sich nicht schließen wollte; die geringsten Ereignisse wuchsen sich zu Katastrophen aus, sie vergaß nicht eine Gebärde, sie hörte noch immer den Schrei: »Mach, daß du fortkommst!«, und sie bildete sich ein, man hätte auch sie verjagt und die Freude und das Glück der Familie auf die Straße geworfen. Des Nachts, wenn sie sich im Halbschlaf voller Unbehagen hin und her warf, bedauerte sie es schließlich sogar, daß der Tod sie nicht von dieser verfluchten Pauline befreit hatte. Pläne, verwickelte Berechnungen stritten sich in ihr, ohne daß sie das geeignete Mittel fand, das junge Mädchen zu beseitigen. Gleichzeitig verdoppelte sich in einer Art Reaktion ihre Liebe zu ihrem Sohn: Sie betete ihn an, wie sie ihn vielleicht nicht einmal in der Wiege angebetet hatte, als er in ihren Armen lag und ganz ihr gehörte. Vom Morgen bis zum Abend verfolgte sie ihn mit unruhigen Augen. Sowie sie dann allein waren, küßte sie ihn, flehte sie ihn an, sich nicht zu grämen. Nicht wahr, er verbarg ihr nichts, er weinte doch nicht etwa, wenn niemand da war? Und sie schwor ihm, daß alles in Ordnung kommen und daß sie eher die anderen umbringen würde, als ihn unglücklich zu sehen. Nach vierzehntägigen fortgesetzten Kämpfen dieser Art hatte ihr Gesicht eine wächserne Blässe angenommen, ohne daß sie indessen abgemagert war. Zweimal war die Schwellung der Füße wiedergekommen, dann war sie verschwunden.
Eines Morgens läutete sie nach Véronique und zeigte ihr ihre Beine, die über Nacht bis zu den Schenkeln angeschwollen waren.
»Sieh doch, was mit mir los ist! Wie ärgerlich! Und ich wollte ausgehen! Da bin ich nun gezwungen, das Bett zu hüten. Sag nichts, damit sich Lazare nicht beunruhigt.«
Sie selbst schien keineswegs erschrocken. Sie sprach nur von ein wenig Müdigkeit, und das ganze Haus glaubte an einen Erschöpfungszustand. Da Lazare an der Küste umherstreifte und Pauline es vermied hinaufzugehen, weil sie fühlte, daß ihre Gegenwart unliebsam war, lag die Kranke der Magd mit ihren wütenden Anschuldigungen gegen das junge Mädchen in den Ohren. Sie konnte nicht mehr an sich halten. Die Unbeweglichkeit, zu der sie verdammt war, das Herzklopfen, das sie bei der geringsten Bewegung erstickte, schienen sie in wachsende Erbitterung zu stürzen.
»Na! Was braut sie da unten? Wieder irgendein Unglück ... Du wirst sehen, sie bringt mir nicht einmal ein Glas Wasser herauf.«
»Aber Frau Chanteau«, erwiderte Véronique, »Sie stoßen sie doch zurück!«
»Laß nur! Du kennst sie nicht. Es gibt keine schlimmere Heuchlerin. Vor den Leuten spielt sie die Gutherzige; dann, hinter dem Rücken, frißt sie einen auf ... Geh, Véronique, du allein hast klargesehen an dem Tage, da ich sie hergebracht habe. Wenn sie niemals hier in unser Haus gekommen wäre, stünden wir nicht da, wo wir jetzt sind ... Und sie wird uns noch zugrunde richten: Der Herr leidet Höllenqualen, seit sie sich mit ihm befaßt; und mir ist das Blut erstarrt, so bringt sie mich durcheinander; und mein Sohn ist im Begriff, den Kopf zu verlieren ...«
»Oh, Frau Chanteau, das ist doch die Höhe! Ausgerechnet sie, die so freundlich zu Ihnen allen ist!«
Bis zum Abend machte Frau Chanteau ihrem Herzen Luft. Alles kam dabei zur Sprache, sowohl der rücksichtslose Hinauswurf von Louise als auch vor allem das Geld.
So kam es, daß Véronique, als sie nach dem Abendessen wieder hinuntergehen konnte und Pauline in der Küche mit dem Forträumen des Geschirrs beschäftigt fand, ihrerseits
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