Die Freundin meines Sohnes
mir, Jahrzehnte war das jetzt her, in dem Kinderzimmer in Yonkers, das wir nicht gern teilten. Sie haben das alles für uns gemacht. Auch wenn es uns vielleicht nicht passt, aber wir wissen, warum sie es gemacht haben.
Und möge Gott mich erschlagen, wenn er nicht recht hatte.
Kurz nach neun war ich zu Hause. Das Haus war leer. Ich ging raus, warf einen Korb nach dem anderen. Mal richtig schwitzen, um die letzten Reste eines grässlichen Tages loszuwerden. Ich wollte alles ausschwitzen und danach unter der Dusche abspülen, und dann wollte ich mir überlegen, was ich als Nächstes tun, was ich meinem Sohn sagen wollte. Ob Laura in die Notaufnahme gegangen war, ob sie dort gesagt hatte, was passiert war? Vermutlich nicht. Nasenbluten hörte wieder auf, gebrochene Nasen heilten normalerweise von allein, und Laura war ziemlich hart im Nehmen. Sie würde das aussitzen. Sie würde sich Eis ans Gesicht halten. Ich warf einen Sprungball und dann noch einen.
Drinnen begann mein Handy zu jaulen. Ein paar Sekunden später hörte es auf, und das Haustelefon begann zu läuten. Ich machte noch mal zehn Freiwürfe. Ich hörte wieder mein Handy und danach das Haustelefon läuten. Großer Gott, war Laura doch zur Polizei gegangen? Jetzt schon? Das Kribbeln in meiner Hand kam wieder. Noch mal fünfzehn Freiwürfe.Die Luft war wunderbar, kühl und frisch, aber in meinem Kopf hörte ich das Knack, knack, knack. Noch eine Woche bis zum Labor Day, die erlöschende Glut des Sommers. Das Haustelefon läutete wieder, und jetzt ging ich rein, um abzunehmen, kam jedoch zu spät. Blickte auf mein Handy.
Ich hatte neununddreißig Anrufe verpasst.
Es war ein schweres Stück Arbeit, mir aus den bruchstückhaften Nachrichten zusammenzureimen, was geschehen war, denn mindestens fünfunddreißig Anrufe waren von Arnie Craig. Er hatte erst eines von mir gewollt, dann etwas anderes. Und schließlich noch etwas anderes.
Konnte ich wohl an den Saranac Lake fahren?
Ich drückte Wiederholung bei dieser ersten Nachricht, danach genauso bei der zweiten. Es waren von Round Hill nur fünf Stunden mit dem Auto, einfach die I-87 rauf. Konnte ich hinfahren? Gab es da oben ein Krankenhaus, wusste ich da was?
Wo sind Sie, Doc?
Entschuldigen Sie, dass ich dauernd anrufe, Doc, aber …
Was ist die Addison-Krankheit?
Was ist eine Addison-Krise?
Und dann änderten sich die Mitteilungen. Eine belegte, erstickte Stimme.
Es war zu spät. Warum haben Sie uns nicht gesagt, dass sie diese Krankheit hat? Eine Erkrankung der Nebennierenrinde? Die direkt über den Nieren liegt? Für die es Tests gibt?
Sie hatte alle Symptome, Doc. Ich wusste es. Ein hormonelles Problem! Sie hatte ein hormonelles Problem! Mein kleines Mädchen hatte gar keine Depression, wie Sie gesagt haben.
Das ist Ihre Schuld. Ihre Schuld, Sie verdammter Mistkerl. Ihre allein.
Ich weiß, dass sie bei Ihnen war. Vorige Woche, in Ihrer Praxis, ich weiß es. Sie haben ihr gesagt, sie hätte eine Depression. Aber sie hatte die Addison-Krankheit. Ich krieg sie, Sie Mistkerl. Sie haben mein kleines Mädchen umgebracht.
Roseanne Craig war von einer Insel des Saranac Lake an einem Seil ins Wasser getaucht, das an dieser Stelle aber zu flach war. Sie war mit der Schulter an einen Stein gestoßen, hatte versucht, aus dem Wasser zu kommen und war schließlich untergegangen. Eine Freundin zog sie mit Mühe heraus und brachte sie ans Seeufer. Roseanne spuckte Wasser, setzte sich auf, rieb sich die Schulter. Ein paar Minuten später jedoch änderte sich alles. Der Schock des Ereignisses löste bei Roseanne eine Addison-Krise aus. Sie schrie vor Schmerzen in den Beinen. Sie übergab sich. Ihr Blutdruck sackte ab. Sie verlor das Bewusstsein. Die Insel, auf der die Freundinnen – Roseanne und zwei andere Mädchen – waren, befand sich an einem einsamen Teil des Sees. Sie mussten Roseanne in ein Kanu verfrachten. Kein Handyempfang, keine Möglichkeit, einen Krankenwagen zu alarmieren. Sie paddelten am Seeufer entlang und fanden ein verlassenes Sommerhaus mit einem Telefon. Brachen über die Veranda in das Haus ein und riefen einen Krankenwagen. Bis Roseanne in ein Krankenhaus gebracht war, bis die Ärzte das Problem erkannt hatten und bis Hydrokortison und Kochsalzlösung und Glukose verabreicht waren, konnten die Ärzte nichts mehr tun, als die Craigs zu fragen, ob sie Roseannes Hornhäute als Spende anbieten durften.
Das Krankenhaus bestimmte 17.15 am Nachmittag als Todeszeitpunkt. Da sah ich mir
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