Die Freundin meines Sohnes
war das Blut an meine Hände gekommen? Ich wusste immer noch nicht, wohin, hatte immer noch keinen guten Plan. Deshalb entschied ich mich, weiter Richtung Süden, nach Chinatown, zu gehen, um mich von dem Treiben dort ein wenig trösten zu lassen, und dann ging ich noch weiter südlich und schließlich nach Osten und über die Manhattan-Brücke, von der ich gar nicht gewusst hatte, dass man sie zu Fuß überqueren kann. Mir fiel nichts Bestimmtes ein, wo ich hingehen konnte, ich lief nur immer weiter, immer weiter weg von Laura Stern.
Brooklyn kam mir vor wie eine andere Welt. Ich stapfte durch die Parks an den Brücken, durch die belebten Einkaufsstraßen, durch die kopfsteingepflasterten Durchgänge, die zum Wasser führten. Ich ging immer weiter, langsam tatenmir in meinen billigen Sneakern die Füße weh, in meinem Kopf wurde immer wieder das Geräusch meiner Hand abgespult, die gegen die Seite von Lauras Gesicht schlug. Ich bog nach rechts ab und fand mich in einem Viertel mit Lagerhäusern wieder, die nach und nach in Wohneigentum und Lofts umgewandelt wurden. Ich ging so lange, bis ich das Wasser fand. Dieses schreckliche Geräusch – knack, knack, knack.
Mein Körper fühlte sich immer noch komisch an, und mir war übel. Meine Hand pochte an der Stelle, mit der sie Kontakt mit Lauras Wange gehabt hatte. Aber seltsamerweise fühlte ich mich mit meinem Entschluss, Alec nicht gehen zu lassen, immer mehr im Recht. Alles an Laura bewies doch, dass er zu Hause bleiben sollte und dass ich recht hatte. Das Problem war, wie ihm das sagen. Das Problem war, wieder ich selbst zu werden. Ich hatte noch nie zuvor eine Frau geschlagen. Ich hatte noch nie jemandem einen Knochen gebrochen. Ich war schließlich Arzt. Hatte den hippokratischen Eid abgelegt.
Als ich an einer Bank mit einer Uhr neben dem Firmenschild vorbeikam und sah, dass es fast drei war, war mir klar, dass ich meine Frau anrufen sollte. Ich fand eine Telefonzelle und meine Kreditkarte und wählte.
»Wo bist du? Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Du hast dein Handy liegengelassen.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich bin in der Stadt. Ich … ich musste bloß ein bisschen herumlaufen.«
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Mehr oder weniger.«
»Du hast gestern Abend Alecs Koffer aus dem Fenster geworfen.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Tut mir leid.«
Wir schwiegen beide einen Moment.
»Pete, wenn er nach Paris geht, heißt das doch nicht, dass wir ihn nie wiedersehen …«
»Nicht jetzt, Elaine, okay?«
Wieder Schweigen.
»Wann kommst du nach Hause?«
»Bald.«
»Zum Abendessen?«
»Bin ich nicht sicher.«
»Ich werd vielleicht mit jemandem irgendwo essen gehen«, sagte sie. »Alec arbeitet, und ich könnte ein bisschen Gesellschaft gebrauchen.«
»In Ordnung.«
»Pete, pass auf dich auf, ja? Was immer mit Alec auch wird – pass einfach auf dich auf, tu’s für mich. Wie du dich verhältst, das tut dir nicht gut. Es ist … nicht gesund.«
Ich legte auf und ging weiter. War alles in Ordnung mit mir? War ich gesund? Warum sollte ich es nicht sein? Was war ungesund daran, dass ich meinen einzigen Sohn beschützen wollte? Was stimmte denn mit mir nicht, wenn ich alles in meiner Macht Stehende tun wollte, um ihn vor Schaden zu bewahren? Ich ging weiter, Lauras erstickte Stimme noch im Ohr, das Baby, Lauras Knie, und die wollten wissen, was mit mir nicht stimmte.
Wohin ich eigentlich ging, merkte ich erst, als ich dort ankam. Der morgendliche Gottesdienst war lange vorbei, und diese Synagoge war nicht religiöse Institution genug, als dass es nachmittags ein mincha gegeben hätte, aber trotzdem war es schon ein Trost, bloß das Gebäude vor mir zu sehen. Ich musste an meinen Großvater in seinem alten schwarzen Mantel denken. An die Dutzenden Verwandten in ihrer schwarz-weißen Pracht an der Wand im Flur meiner Eltern. Ich dachte daran, wie mein toter Vater Phil und mir jede Woche in die gebügelten schwarzen Hosen geholfen hatteund Hand in Hand mit uns in die Synagoge gegangen war. Wir waren sechs, sieben Jahre alt. Ich hatte noch nie in einem Flugzeug gesessen, war noch nie bei einem Baseballspiel und noch nie Schlittschuhlaufen, noch nie in den Bergen gewesen, aber ich kannte das warme Gefühl der festen Hand meines Vaters in meiner, kannte den modrigen Geruch der Synagoge, mein Großvater küsste mich und meinen Bruder aufs Haupt und steckte jedem von uns einen Vierteldollar zu, weil wir so brav gewesen waren. Für uns, sagte Phil einmal zu
Weitere Kostenlose Bücher