Die Freundin meines Sohnes
wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Aber dann hatte ich eine Idee. »Wenn du ihn nett fragst, leiht Neal sie dir vielleicht mal?«
Kinder wollen auf keinen Fall ausleihen. »Wieso kann ich keine eigene haben?«
»Weil du schon unser ein und alles bist.« Das war schlapp, das war mir klar, aber er schien die Antwort zu schlucken, steckte den Daumen in den Mund, und ich war ungeheuer dankbar für diesen merkwürdigen Moment der Zufriedenheit.
Ich wollte zu Laura Stern und sie fest durchrütteln. Ihre Eltern hätten das Baby zu sich genommen. Wir hätten es zu uns genommen.
»Es war nicht lebensfähig.« Joe aß einen halben Löffel von seinem Haferbrei. »Das ist die Sachlage. Es war nicht lebensfähig, das hat die Autopsie ergeben.«
»Das steht fest?«, sagte ich. »Aber, das ist doch gut, oder?«
»Ich hab schon solche Frühchen gesehen, Pete, Untergewicht, die Lunge unreif«, sagte er. »Selbst wenn sie fünfzehn Wochen lang auf einer Perinatalstation liegen, gibt es keine Überlebensgarantie. Über die Hälfte sind blind. Haben Hirnschädigungen. Und manchmal sterben sie, einfach so. Und wenn sie leben, ist das kein Leben.«
»Das ist in eurem Fall doch gut.«
»Beweisen müssen wir es trotzdem. Es ist eine heikle Sache, zu beweisen, ob ein Säugling bei seiner Geburt gelebt hat oder nicht.«
»Kann man bei einer Autopsie nicht nach Sauerstoff in der Lunge suchen, nach irgendwas?« Im Medizinstudium hatten wir darüber nie etwas gehört.
»Sie könnten sie trotzdem drankriegen, wegen Leichenschändung.«
Ich nickte. »Natürlich.« Leichenschändung.
»Allein dafür könnte sie achtzehn Monate kriegen.«
»Na ja, das ist … besser als die Alternative.«
Ich hab mir die Toilettenräume in der Stadtbücherei von Round Hill angesehen. Lindgrüne Kacheln mit schwarzen Fugen. Altmodische Säulenwaschbecken. Jede Menge Spiegel. Deshalb musste ich unweigerlich an die Toilettenkabinen denken, ist sie in die für Behinderte gegangen? Selbst wenn, war die trotzdem kaum größer als ein begehbarer Kleiderschrank. Vermutlich hat sie über der Toilettenschüssel hockend geboren. Und sich dann den erstbesten schweren Gegenstand gegriffen – oder hatte sie etwas mit? einen Hammer? den Baseballschläger ihres kleinen Bruders? – und dem schreienden Neugeborenen den Schädel eingeschlagen. Ist damit zur Mülltonne hinter dem Gebäude gegangen. Das Blut auf dem Boden der Toilette hat sie mit einem Sweatshirt aufgewischt, dieses Sweatshirt ist jetzt offiziell Eigentum des Staates. Über diese Einzelheiten wollte ich gar nicht nachdenken,aber ich kam nicht davon los: Wo war das Baby, als sie das Blut aufwischte? Lag es auf dem Boden? In einem Waschbecken? War der Schädel da schon eingeschlagen? Lebte der Säugling? Weinte er? Fünfundzwanzig Wochen. Das Baby war blind, konnte wahrscheinlich kaum atmen. Lag auf dem Boden eines Toilettenraums. Sein Schädel dünn wie Pergament.
»Woran denkst du?«, fragte mich Joe, mein ältester Freund.
»An nichts.« Ich schaufelte mir mein fades, lächerliches Essen in den Mund. Ob er sie das überhaupt gefragt hat: Hat das Kind gelebt? Was mag sie darauf geantwortet haben, falls sie es überhaupt wusste?
Laura hatte stark geblutet, Uterusatonie, Nachgeburtsblutung. Sie muss panische Angst gehabt, ihre fünf Sinne aber trotzdem soweit beisammen gehabt haben, dass sie mit einem Taxi ins Krankenhaus gefahren ist. Der Taxifahrer würde als Zeuge der Anklage aussagen, dass die junge Frau gefasst gewirkt hatte, vernünftig. Das Einzige nicht Normale war das Blut. Er hatte keine Fragen gestellt, und bis zum nächsten Morgen hatte Laura niemandem gegenüber Angaben zum Verbleib des Babys gemacht. Die Polizei hatte gewartet, bis die Wirkung des Lorazepams nachließ und die Anwälte der Familie eintrafen.
»Wir haben sie in Iris’ Familiengrab beerdigt«, sagte Joe. »Neben Iris’ Mutter.«
Ich musste schlucken.
»Wir haben Rabbi Ross kommen lassen, er hat einen Segen gesprochen. Iris und ich sind allein dort gewesen. Laura wollte nicht mitkommen, das war in Ordnung. Meine Mutter ist bei ihr geblieben. Rabbi Ross kam zu uns raus, sprach ein paar Worte. Vielleicht stellen wir irgendwann einen Grabstein auf. Ich weiß nicht.«
»Aha«, sagte ich und dachte für mich: Brauchen die denLeichnam nicht für die Beweisführung? Dachte: Ist das überhaupt legal? Das Opfer begraben, bevor ein Urteil gesprochen ist? Hätte der Staat New Jersey das Baby nicht in Verwahrung nehmen müssen?
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