Die Freundin meines Sohnes
hat sie uns nicht vertraut?« Seine Stimme heiser und brüchig.
Wieder den Blick auf dem Kaffee. Morgendliche Stammgäste kamen herein, die hiesigen Zahnärzte, die Cops, Tim, der Geschäftsführer des Chop House. Joe wartete immer noch auf eine Antwort.
»Ihr solltet nicht wissen, dass sie einen Freund hat«, sagte ich. »Oder dass sie Sex hat.«
Joe schwieg, bis die Kellnerin uns das Essen an den Tisch gebracht hatte. »Einen Freund«, sagte er. »Meines Wissens hatte sie nicht mal Freunde .« Ich blickte auf die verbrannten Ränder meines Toasts.
»Wenn sie Pech hat, bekommt sie lebenslänglich«, sagte Joe. Es wird geprüft, ob sie sie unter Erwachsenenstrafrecht anklagen können.«
»O Gott«, sagte ich. »Ach, Joe … ich …«
»New Jersey möchte das so, sie wird in zehn Monaten achtzehn. Also klagen sie sie als Erwachsene an, und wenn sie gewinnen, kriegt sie lebenslänglich in einer Haftanstalt für Erwachsene. Vorzeitige Haftentlassung erst nach dreißig Jahren möglich.«
Er schloss die Augen, öffnete sie wieder und sah mich mit trübem Blick an. »Kannst du dir das vorstellen, Pete? Mein kleines Mädchen, den Rest ihres Lebens hinter Gittern?«
»Das wird nicht passieren.« Aber, warum nicht?
»Was sollen wir nur tun? Was können wir tun?« Er fixierte mich mit seinen blutunterlaufenen Augen. »Pete, ehe das passiert, geben wir alles auf und schaffen sie heimlich nach Mexiko. Wir finden schon was. Das meine ich ernst.«
»Joe, das wird nicht passieren.«
»Dreißig Jahre in einem Gefängnis mittlerer Sicherheitsstufe. Weißt du, wie diese Haftanstalten sind ? Weißt du, was einem Mädchen wie Laura an so einem Ort passieren kann?«
»Hör mal …»
»Dann ist sie eingesperrt, hat keinen Menschen, Besuch nur hinter Gittern, Panzerglas, hat keine Zukunft, ist umgeben von Mördern und Mitgliedern von Gangs, sie ist allein, wird alt, wir sterben, und sie sitzt immer noch hinter Gittern.«
»Jetzt mal langsam …«
Aber er winkte ab.
»Jetzt mal langsam«, sagte ich noch einmal. Ich weiß nicht, warum.
Als Laura geboren wurde, hatten wir das College gerade ein Jahr hinter uns, wir waren damals alle dreiundzwanzig. Joe und Iris waren zusammen in Philadelphia, Iris machte ihren MBA an der Wharton School, Joe studierte an der Temple University Medizin. Im Sommer, bevor das Studium losging, hatten sie überlegt, ob sie sich verloben oder lieber auf weniger ausgetretenen Pfaden wandeln sollten. Immerhin waren sie schon drei Jahre lang ein Paar. Sie hatte gerade ihre erste Woche Studium hinter sich und Joe seine dritte, da fing Iris an, sich in den Seminarpausen zu übergeben und nachmittags fühlte sie sich völlig erschöpft. Joe machte ihr einen Antrag, sie heirateten in den Wintersemesterferien, im Mai kam Laura zur Welt. Ein Rotschopf, genau wie Iris.
Ich erinnere mich gern an diese Zeit, aber ich musste ja auch kein wirtschaftswissenschaftliches Studium mit einemNeugeborenen auf dem Arm bewältigen und als Frischverheirateter bei den Eltern und Schwestern in demselben Reihenhaus im Norden von Philadelphia wohnen, in dem ich aufgewachsen war und in dem es nur ein Bad gab. Ich lebte damals in einem angenehmen Wohnheim des Mount Sinai, und Elaine teilte sich mit zwei Kommilitoninnen eine große Dreizimmerwohnung an der Columbus. Was wussten wir von beengt und mittellos? Was wussten wir von Mastitis, von null Privatsphäre, von jüngeren Schwestern, die eine geschlagene Dreiviertelstunde lang badeten, wenn dem Baby die Windeln gewechselt werden mussten, die dummerweise aber im Badschrank lagen, und alle im Haus nur schrien? Elaine und ich hatten keinen Schimmer – im Gegenteil, zu Hause kochen und kleine Babys, das war doch nett. Wenn wir uns am Wochenende von New York losreißen konnten, besuchten wir Joe und Iris. Wir fuhren Laura gern in ihrem Sportwagen aus, gingen mit ihr in den Zoo oder in den Fairmount Park, damit ihre Eltern mal zusammen ins Kino konnten. Elaine und ich waren verlobt, wollten aber erst heiraten, wenn ich mein Medizinstudium abgeschlossen hatte. Wenn wir Joe und Iris am Wochenende besuchten, steckte Mrs. Stern uns zum Schlafen in separate Zimmer.
Nach dem Studium gingen die Sterns nach Baltimore, Joe machte seine Facharztausbildung an der John Hopkins University, und Iris nahm eine Stelle in der internen Firmenbetreuung bei der First Mariner Bank an. Sie gaben Laura in einen Kindergarten und zu Tagesmüttern und arbeiteten beide Vollzeit. Doch obwohl sich ihre Eltern
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