Die Freundin meines Sohnes
Haar zwischen den Fingern zu reiben, seine Weichheit zu spüren.
»Du müsstest es besser wissen, darum geht’s mir. Du hast den Moralkodex eines Teenagers und bist genauso undifferenziert. Richtig ist nicht immer richtig, und falsch ist nicht immer falsch.«
»Wovon redest du?«
»Pete«, sagte sie, »die Welt ist nicht immer so einfach, wie du es gern hättest.« Ihr Gesicht wurde fleckig, dann rot. »Und bloß weil ein Teenager auf einer Toilette ein Kind bekommt und es verschwinden lässt …« Sie hielt inne. »Gerade du müsstest doch wissen, dass die Welt nicht so einfach ist, wie du es gern hättest. Du bist Arzt, Pete.«
In den vielen Jahren unseres Zusammenlebens war ich mir Elaines Beistand immer sicher gewesen, hatte mich darauf verlassen. Sie gab mir nur selten contra und nahm kaum Anstoß an meiner Einschätzung der Bedrohungen, die unser Leben durchrüttelten. Warum also jetzt? Was war jetzt anders? Wenn überhaupt, so hatte ich erwartet, dass sie meine Auffassung noch mehr teilte als sonst, es war schließlich auch einviel ernsteres Vorkommnis in unserem Leben. Im Leben aller Beteiligten. Im Krankenhaus, auf Dinnerpartys, überall, wo man in Round Hill zusammenkam, fiel es schwer, nicht darüber zu sprechen.
Aber diesmal war Elaine nicht auf meiner Seite, und seltsamerweise errötete ich nun ebenfalls.
»Die arme Laura, sie blutet, ist in Panik, legt ihr Baby in einer Mülltonne ab, das ist natürlich schrecklich, aber …« – Elaine hielt sich an ihrem Weinglas fest – »aber genau deshalb, eben weil es so schrecklich ist und weil wir Laura kennen und wissen, dass sie ein guter Mensch ist, ein moralischer … meinst du nicht, es muss noch einen anderen Grund geben, warum das passiert ist?« Elaine stemmte eine Hand in die Hüfte, es war ihr ernst. Vielleicht war das bloß eine mütterliche Regung – schließlich hatten wir Laura vor so vielen Jahren im Kinderwagen durch den Fairmount Park geschoben. »Meinst du nicht, dass da noch etwas anderes gewesen sein muss? Ihr durch den Kopf gegangen sein muss?«
»Woher soll ich denn wissen, was ihr durch den Kopf gegangen ist?«
»Ich bitte dich doch nur, ein bisschen Mitgefühl aufzubringen, Pete.«
»Mitgefühl.« Der Börsenbericht predigte das Evangelium von Berkshire Hathaway. Fünf Prozent nach oben, gleichgültig hörte ich mir ein, zwei Minuten lang an, wie ich reicher wurde. Morgen früh würde Kenny, mein Aktienhändler, anrufen und sich selbst dazu gratulieren, wie er mit meinem Geld gewirtschaftet hatte.
»Elaine, zu meiner Zeit waren Kindsmörder Kindsmörder. Oder um es anders auszudrücken, wenn ein Mädchen schwanger wurde und das Kind bekam und dieses Kind umbrachte, wogen die Gründe, warum sie das tat, die Tat nicht auf. So war das jedenfalls, als ich groß geworden bin, vielleichtwar das ja eine Zeit mit mehr Schwarz-Weiß, ich weiß es nicht.«
»Zu deiner Zeit trieben Mädchen in Hinterzimmern ab.«
»Eine Abtreibung wäre eine gute Alternative gewesen. Verglichen mit Mord.«
»Du hältst sie wirklich für eine Mörderin?«
»Ich wüsste nicht, wie man es sonst nennen sollte.«
»Das hat es schon immer gegeben, Pete«, sagte sie in demselben Ton, in dem sie Alec im Herbst zuvor die menschliche Fortpflanzung erklärt hatte. »Iris hat mit Soziologen gesprochen, mit Psychologen. Ich hab sie mit Leuten an der Bergen in Kontakt gebracht. Mädchen, die allein ein Kind geboren haben oder die sich nicht um ihre Kinder kümmern können oder die sich für Außenseiter in der Gesellschaft halten …«
»Laura Stern soll ein Außenseiter sein?«
»Mit siebzehn schwanger? Natürlich ist sie das.«
»Schwanger zu sein macht sie nicht zum Außenseiter . Sie hätte sich Joe und Iris anvertrauen können. Sie wären so liebevoll, hilfsbereit und fantastisch gewesen wie immer.«
»Wahrscheinlich hat Laura geglaubt, sie würden sie bestrafen. Sie verstoßen.«
»Joe und Iris?«
»Natürlich hätten sie das nicht getan, sie hat bloß geglaubt, dass sie das tun würden. Vermutlich dachte sie, sie dürfe sie nicht enttäuschen. Ihre Erwartungen an ihre Kinder waren immer hoch.«
»Dann ist es also ihre Schuld?«
»Das habe ich nicht gesagt. Es ist nur so, dass sie etwas von ihren Kindern erwarten, von allen vieren. Und eine Schwangerschaft gehört mit Sicherheit nicht dazu.«
»Ich kann nicht glauben, dass du Joe und Iris die Schuld gibst.«
»Ich gebe Joe und Iris nicht die Schuld!«
»Dann hör dir mal zu.«
»Warum bist du
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