Die Freundin meines Sohnes
Über die Gesetzeslage wusste ich herzlich wenig.
Da liegt es in der Stadtbücherei von Round Hill in einem Toilettenbecken. Wartet darauf, dass ihm der Schädel eingeschlagen wird.
»Wir haben ihr einen Namen gegeben.«
Ich kneife etwas dümmlich die Augen zusammen.
»Der Rabbi wollte wissen, ob wir das möchten. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, aber Iris hat ja gesagt, wollen wir. Es sei richtig, das zu tun.«
Joe flüsterte in dem neonbeleuchteten Restaurant jetzt wieder. Unsere vollbusige Kellnerin kam mit der Kaffeekanne vorbei, Gary Puckett and the Union Gap säuselten, von anderen bezahlt, aus der Jukebox, das Essen vor uns wurde kalt, draußen rauschte der Berufsverkehr vorüber. Doch an unserem Tisch war es still.
»Wir konnten sie ja nicht als weibliches Neugeborenes Stern in den Himmel kommen lassen«, flüsterte Joe. »Das ging einfach nicht. Sie brauchte einen Namen. Iris hatte recht.«
»In den Himmel, Joe?«
»Wir haben sie Sara genannt«, sagte er. »So hieß Iris’ Mutter.«
»Aha«, sagte ich. »Das ist wirklich ein hübscher Name.«
Ich wollte, konnte aber nicht wegschauen und sah also die Träne, die sich aus seinem Auge stahl und ihm in leichtem Zickzack die Wange herunterkullerte.
»Ach, Joe.«
Aber dann schnäuzte er sich Gott sei Dank die Nase, rieb sich wieder die kahle Stelle auf seinem Kopf und sagte entschuldigend, er müsse jetzt wirklich gehen, es tue ihm leid, erhabe einen Termin beim Psychiater, und dieser verfluchte Arzt stelle ihm so viel in Rechnung, dass er sich nicht verspäten wolle.
»Ich ruf dich an, Joe«, sagte ich, als ich ihn auf dem Parkplatz des JCC an seinem Auto rausließ.
»Das wäre toll, Pete«, sagte er. »Wir haben mit all dem noch viel zu tun, aber …«
»Ich ruf dich an«, sagte ich. Aus irgendeinem Grund sah ich im Geiste immer wieder Sara Stern in einer Mülltonne hinter der Stadtbücherei, ihr Schädel wie eine weiche Frucht zerquetscht. Ich brauchte Wochen, bis ich zum Hörer greifen konnte.
Ich kann mich glücklich schätzen, das weiß ich. Ich konnte mich an jenem Morgen glücklich schätzen, als ich hörte, was bei einem anderen Schreckliches vorgefallen war, und ich kann mich sogar jetzt glücklich schätzen, während ich in einem warmen Atelier sitze, mich in dem kleinen Bad eine unzuverlässige Dusche erwartet und danach ein klumpiger Futon und von draußen das Gezeter der Kriegers. Der Geruch der Ölbilder meines Sohnes hängt noch in dem leidlich großen Raum in der Luft. Mein Sohn, meine Frau, mein Job, meine Mutter, mein Bruder. Ich habe genug Unheil angerichtet, um sie alle zu verlieren, aber irgendetwas sagt mir, dass ich sie – so sehr ich es auch verdiene – nicht völlig verlieren werde. Das erscheint mir nicht unbedingt richtig, aber das Glück verlässt mich einfach nicht.
Und dann klingelt das Handy. Meine Frau? Nein, es ist mein alter Freund Joe, der wohl gespürt hat, dass ich an ihn denke. Was will er jetzt von mir? Was gäbe es für uns zu besprechen? Joe hält meine Zukunft in den Händen, und das weiß er auch. Dieser Kunstfehler-Fall – einmal sacht ausatmen, und er könnte mein ganzes Leben und meine Existenzgrundlagezerstören. Es ist höchst unangenehm, wenn alte Freunde in eine solche Lage geraten, aber so ist es nun mal. Das Handy hört auf zu klingeln, erholt sich kurz, fängt wieder an. Ich schaue zu: Es blinkt und vibriert und eine elektronische Version von Vivaldis Vier Jahreszeiten ist zu hören. Joe hinterlässt mir keine Nachricht. Ich schalte das Handy ab.
Manchmal fehlen mir die Gespräche mit Joe, sie fehlen mir wirklich.
Draußen kämpfen zwei Kater aus dem Viertel, sie haben Frühlingsgefühle, die meisten Katzen in der Gegend sind allerdings sterilisiert, die Auswahl ist bescheiden. Ich mag den April – Eliot hin oder her –, ich mag die Kater, den Optimismus der Magnolien, die Sekretärinnen, die ihre Strümpfe ausziehen, mag Kaffeetrinken im Freien und Raucher, die wieder am Haupteingang des Krankenhauses in Grüppchen stehen. Am ersten warmen Aprilsonntag haben Joe und ich immer lange Fahrradtouren durch die Palisades gemacht, im Weißdorn links und rechts des Highways lagen manchmal noch Schneereste.
Roseanne Craig erzählte mir einmal, in Nordkalifornien sei es immer Frühling gewesen, bis sie einmal, den Grund verstehe sie immer noch nicht, aufgewacht sei und es Winter war.
Ich war sehr aufgewühlt, als ich nach meinem Frühstück mit Joe in die Praxis ging. Meine
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