Die Friesenrose
Vater war der Dorfpfarrer, und das, was er seinen Schäfchen predigte, lebte er ihnen auch vor – mit allen Konsequenzen, wie du noch hören wirst. Er hielt sich streng an das heilige Wort und erwartete von seinen Gemeindegliedern dasGleiche. Jedes Fehlverhalten galt als Sünde und wurde streng verurteilt. Der Tugendhaftigkeit galt sein besonderes Augenmerk. Anna muss sehr streng erzogen worden sein. Zu den anderen Dorfkindern hatte sie keinen Kontakt. Lesen und Schreiben brachte ihr die Mutter bei. Kaum jemals verließ sie das Haus und noch seltener den kleinen Ort, in dem ihre Eltern wohnten. Sie muss ein sehr einsames Kind gewesen sein.
Eines Tages, Anna war damals gerade siebzehn Jahre alt, traf es sich, dass ein wandernder Handwerksgeselle durch das Dorf zog und auf der Suche nach Arbeit auch am Pfarrhaus verschiedene Schäden ausbesserte. Es stellte sich heraus, dass der Bursche der Sohn eines reichen Kaufmanns war, der erst zeigen sollte, was in ihm steckte, bevor er die Position seines Vaters übernehmen durfte. Seine vornehme Herkunft und auch die Art des jungen Mannes, seine Weltgewandtheit und seine Bibelkenntnisse imponierten den Eltern von Anna, und sie luden ihn hin und wieder zum Essen ein. Der Handwerksbursche, Cirk hat mir niemals seinen Namen genannt, war ein guter Schauspieler. Er schmeichelte sich nicht nur beim Pfarrer und seiner Frau ein, sondern verdrehte auch Anna den Kopf. Es war die letzte Reise des Burschen vor der Übernahme des väterlichen Betriebes, und das Wissen darum schien ihn anzuspornen. In jedem Dorf suchte er sich ein Mädchen, denn daheim wartete nicht nur sein Vater auf ihn, sondern auch eine Braut. Der Hochzeitstermin stand schon lange fest.
Von alldem wusste Anna natürlich nichts. Sie sah nur die Augen des jungen Mannes, die so ehrlich schienen, und hörte seine Versprechungen. Bald erlag sie seinem Charme. Und du kannst dir sicherlich vorstellen, was danach geschah.“
Tjalda wischte sich kurz über die Augen, wartete Inkens Reaktion aber nicht ab. „Eines Tages war der Handwerksbursche über Nacht verschwunden. Einfach fort, so als ob er niemalseinen Fuß in das Dorf gesetzt hätte. Alle anderen verschrien ihn als undankbaren Tropf, so ohne Gruß zu gehen, doch Anna verlor fast den Verstand, denn sie liebte diesen Kerl. Und wie verzweifelt muss sie erst gewesen sein, als sich nach kurzer Zeit auch noch herausstellte, dass sie schwanger war.“
Tjalda holte tief Luft, und Inken zog sich das Tuch fester um die Schultern. Es war unheimlich von dieser Frau zu hören, die Cirks Mutter gewesen war und deren Schicksal sie frösteln ließ. Nur zu gut konnte sie sich vorstellen, wie die Eltern der jungen Frau reagiert hatten.
„Annas Liaison war wohl nicht allen im Dorf verborgen geblieben. Und als ihr Vater davon erfuhr, kochte er vor Wut. Tagelang ließ er seine Tochter in der kalten Kirche stehen, damit Anna in der Stille und Dunkelheit über ihre Untaten nachdenken und Buße vor Gott tun konnte. Das Schweigen der Dörfler erkaufte er sich mit Drohungen, und seine Tochter war in seinen Augen von nun an nicht mehr wert als ein Fußabtreter. Verachtung schien das Einzige zu sein, was ihr Vater noch für sie empfand. Anna ließ all dies über sich ergehen. Weder der Abscheu des Vaters noch die ablehnende Haltung der Mutter, die sich in allem ihrem Mann unterwarf, berührten sie, denn sie war in ihrer eigenen Welt gefangen. Sie wartete auf den schönsten aller Tage, den hellsten aller Nächte – den Tag, die Nacht, den Augenblick, an dem ihr Geliebter zu ihr zurückkehren würde. Nur dafür lebte sie noch. Anna war felsenfest davon überzeugt, dass sein Verschwinden nur ein Irrtum war. Es musste einfach ein Irrtum sein! Er würde sie holen kommen, das stand für sie fest. Wahrscheinlich gab es noch viel zu regeln in seinem Heimatort, und von ihrer Schwangerschaft wusste er ja nichts, so dachte sie. Die Schwangerschaft! Sie hing wohl wie ein dunkler Schattenüber Anna, und ihre Gefühle müssen zwiespältig gewesen sein: einerseits die Freude auf das Kind, andererseits die Furcht vor der Entdeckung, bevor der Geliebte zurückkehrte.
Aber der Geliebte kehrte nicht zurück. Solange es möglich war, verschwieg Anna ihre Schwangerschaft. Doch irgendwann ließ sie sich nicht länger verleugnen. Ihr Vater war außer sich! Der Gedanke, dass seine Tochter außerhalb der heiligen Ehe einem Mann gehört hatte, war ihm schon zuwider gewesen. Doch darüber hatte er zumindest noch den
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