Die Friesenrose
Gedanken versunken schlenderte er am Hafen entlang zum Wohnhaus des Kapitäns der Maisje . Cirk hatte keinen Blick für die vielen Häuser mit ihren Lagerräumen, in denen die Chinesen die Kaufleute aus aller Herren Länder untergebracht hatten. Er beachtete weder die preußische Flagge, die seit gestern zwischen denen der anderen Nationen wehte, noch die kleinen Dschunken im Hafen.
Wenn seine Geschäfte bald abgeschlossen wären, könnten sie bereits um die Jahreswende die Anker lichten und mit günstigem Nordwestmonsun im Frühjahr wieder in Emden sein. Das wäre ihm am liebsten. Tief sog er die feuchte Luft ein. Es war zwar aufregend, hier in China zu sein, doch er wollte um alles in der Welt so schnell wie möglich nach Hause zurück! Er wollte zu Inken, und manchmal haderte er mit dem Schicksal, das ihn für so lange Zeit von ihr fernhielt. Er fühlte sich verloren ohne sie. Die lange Reise, die Fremdheit Chinas, all das verstärkte noch das Gefühl in ihm seelenlos, ziellos, heimatlos zu sein. Sogar auf See hatte ihn die selbstgewählte Einsamkeit, obwohl sie ihn seit seiner Kinderzeit ständig begleitete, manchmal fast verzweifeln lassen. Doch die Liebe zu Inken hatte sie ihm zur Qual werden lassen. Ein Leben ohne Inken schien ihm sinnlos.
Cirks Gedanken wanderten zu den gemeinsamen Tagen, die sie auf Norderney verbracht hatten, zurück. Dort hatte erbegriffen, was wahres Glück ist. Und hatte geglaubt, dass nichts und niemand sie jemals wieder trennen würde. Nicht einmal der Krieg. War das immer so, wenn zwei Menschen einander liebten? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass diese Monate ohne Inken die Hölle waren. Die Sehnsucht nach ihr brachte ihn fast um. Er dachte an sie, träumte von ihr, doch damit nicht genug. Wenn er sie im Traum in den Armen hielt, spürte er nach dem Aufwachen eine unerträgliche Leere in seinem Inneren. Bevor er Inken gekannt hatte, war er wie ein einsamer Vogel heimatlos ins Nichts geflogen. Heute wusste Cirk jedoch, dass er durch sie auch wieder ins Leben zurückgefunden hatte.
Lucias Theaterspiel ging ihm durch den Sinn, ihr billiger Auftritt, der ihn zum Vater ihres ungeborenen Kindes gemacht hatte. Für einen winzigen Moment durchzuckte Cirk die schreckliche Vorstellung, Inken könnte diese Lüge immer noch glauben und in ihrer ablehnenden Haltung verharren. Doch nein, sein Brief, der sie durch Thomas längst erreicht haben musste, hatte mittlerweile sicher alle Missverständnisse aufgeklärt. Inken würde über Lucia lachen und verstehen, warum er diese Reise nach China angetreten hatte. Und wenn sie außerdem noch durch Tjalda von seiner Vergangenheit erfuhr, würde sie wissen, dass er seine Schuld abtragen wollte, um frei für eine gemeinsame Zukunft zu sein.
Warum hatte er ihr nur nicht schon auf Norderney von seiner Kindheit erzählt? Damals waren sie einander so nahegekommen, dass es ein Leichtes gewesen wäre. Doch er hatte den Zauber ihres Zusammenseins nicht mit den dunklen Seiten seiner Vergangenheit zerstören wollen und dafür in Kauf genommen, dass er für Inken stückweit noch ein Fremder geblieben war. War dies der Grund, warum sie Lucias Posse überhaupt erst hatte ernst nehmen können?
Cirk verspürte einen bohrenden Schmerz hinter seiner Stirn. Es hatte keinen Sinn, sich länger den Kopf darüber zu zerbrechen. Er konnte sowieso nichts mehr daran ändern. Sein Brief würde Inken die Wahrheit erkennen lassen, obwohl er die Gründe für seine Fahrt nach China darin nur angedeutet hatte. Denn ein Brief konnte in falsche Hände geraten, und sein Wissen über Thomas’ Verfehlungen ging niemanden etwas an. Davon würde er Inken später erzählen, wenn sie wieder glücklich vereint waren.
Bilder stiegen in ihm auf. Sie beide Hand in Hand am Meeressaum. Fast vermeinte er das Rauschen der Wellen zu hören und dann von weither ihre Stimme, die ihn liebevoll beim Namen rief. Er wollte die Hand heben und sanft ihre Wange berühren, drängte seine Erinnerungen aber entschlossen zurück. Hier und jetzt durfte er ihnen keinen Raum geben. Monatelang würde er noch von Inken getrennt sein, und so lange mussten die Träume warten!
Cirk legte den Kopf in den Nacken und nahm zum ersten Mal den blauen Himmel und die weißen Wolken bewusst wahr. Mit festen Schritten näherte er sich dem Domizil des Kapitäns der Maisje und ihrer Kaufleute am äußeren Ende des Hafens. Kapitän Jacobs wartete schon auf Cirk. Auch hier an Land war er formell gekleidet und trug das graue
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