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Die Friesenrose

Die Friesenrose

Titel: Die Friesenrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Oltmanns
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„Die Männer verbergen sie nur gut vor uns. Einzig die Kaufleute haben das Glück, sie zu Gesicht zu bekommen. Es ist Tradition, dass bei den Handelsgeschäften Chinesinnen den Europäern die Speisen vorlegen und den Tee servieren. Man sagt, die Co-Hongs , die chinesischen Kaufleute, wollen nicht nur die Gaumen, sondern auch die Augen und Herzen ihrer Kunden durch den Anblick chinesischer Schönheiten erfreuen und betören. Noch vor einigen Jahren durften die Kaufleute nicht einmal in der Nähe des Hafens wohnen. Sie wurden entweder von Wampou oder direkt von ihren Schiffen aus mit kleinen Booten nach Kanton gebracht und waren dann nach all den Monaten auf See natürlich überwältigt von den fremdartigen Speisen, dem Tee und diesen betörenden Geschöpfen, die sie bedienten.“
    Cirk nahm die Gelegenheit wahr, noch ein bisschen mehr über die Frauen zu erfahren. „Ich habe gehört, dass die Chinesinnen klein und zierlich sein sollen, wie Kinder. Außerdem, so behauptet Focke, einer unserer älteren Matrosen, hätten sie alle derart winzige Füße, dass sie in keinen europäischen Damenschuh hineinpassen würden.“
    „Bei einigen ist das so.“ Traurig schüttelte der Kapitän den Kopf. „Allerdings meist nur bei Frauen aus reicheren Familien. Die Füße der Chinesinnen sind nicht von Natur aus so klein, sie werden so gemacht! Kleine Füße sind hier ein Zeichen von Schönheit. Wer es sich leisten kann, lässt seiner Tochter die Füße binden, um so ihre Heiratschancen zu erhöhen. Die Bandagen werden dabei so eng geschnürt, dass der Fuß sich nicht zu seiner normalen Größe entwickeln kann und verkümmert.“
    Verständnislos blickte Cirk den Kapitän an. „Wie soll das gehen?“
    „Stellen Sie sich den Fuß eines kleinen chinesischen Mädchens vor, Cirk. Die Großmutter des Kindes – denn sie ist meistens diejenige, die diese Prozedur übernimmt – umwickelt den Fuß mit etlichen Metern nassem Stoffband, so dass alle vier kleinen Zehen in Richtung Fußballen zeigen. Dann legt die Großmutter einen Stein auf den Fuß des Kindes und zerschmettert ihn damit.“
    „Sie zerschmettert den Fuß?“ Cirk verzog ungläubig das Gesicht. „Ich kann nicht glauben, dass eine Mutter oder Großmutter so etwas tun würde.“
    „Nur zum Besten des Kindes, wie sie meint, damit es schmale spitze Füße bekommt. Denn die Lilienfüße entscheiden über eine gute Vermählung. Und viele junge Frauen machen ihren Müttern oder Großmüttern später bittere Vorwürfe, wenn diese aus Mitleid die Bandagen wieder entfernen. Es dauert viele Jahre, bis der Fuß eines Mädchens dem Schönheitsideal entspricht. Tag und Nacht müssen die Füße mit den Bändern auf besagte Weise abgebunden werden, so lange, bis die Knochen nicht mehr zusammenwachsen. Wenn dann der große Tag, ich nenne es mal die ,Hochzeitsbeschau‘, gekommen ist, inspiziert die Familie des Bräutigams als Erstes die Füße der Braut.“
    „Das ist ja unglaublich! Woher kommt denn dieses merkwürdige Schönheitsideal?“ Cirk schüttelte verständnislos den Kopf.
    „Es soll in alter Zeit eine Dienerin gegeben haben, die für ihre zarte Schönheit und ihre Tanzbegabung berühmt war. Der Kaiser Li Yu ließ eine goldene Lotosblüte anfertigen, sechs Fuß hoch, die kostbar geschmückt war. Diese in vielen Farben leuchtende Blüte stand in der Mitte der Halle, und dieTänzerin schmiegte sich, die Füße mit hellen Seidenbändern umwunden, hinein. Nachdem sie die Form einer Mondsichel angenommen hatte, glitt Yaoniang, so ihr Name, leicht wie ein Schmetterling wieder aus dem Lotuskelch. Sie schwebte wie auf Wolken dahin. Der Kaiser Li Yu konnte wärend des ganzen Tanzes die Augen nicht von ihren winzigen bandagierten Füßen lösen. Wie ein unwirkliches Himmelskind erschien Yaoniang ihm und dem ganzen Hofstaat. Die Konkubinen des Kaisers verfolgten seine Faszination mit ängstlichen Blicken. Sie fürchteten, die Gunst des Kaisers zu verlieren. Daher wickelte am folgenden Tag jede der Frauen ihre Füße mit engen Bandagen, um für den Kaiser auch zu einem Himmelswesen zu werden. Was von den Konkubinen und Tänzerinnen begonnen wurde, entwickelte sich nach und nach zu einem festen Brauch in China.
    „Aber die Frauen haben doch sicherlich große Schmerzen beim Laufen?“
    „Und ob.“ Kapitän Jacobs nickte. „Bis ihre Füße verkrüppelt sind, leiden die Frauen über Jahre hinweg furchtbare Qualen, und danach können sie kaum die kleinste Strecke auf ihnen

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