Die Friesenrose
von dannen gezogen. Allerdings nicht ohne das Versprechen, im Juni wiederzukommen.
Ja, und dann waren Ideen in Inkens Kopf gereift, die sie unbedingt in die Tat umsetzen wollte. Lange hatte sie mit sich gehadert, hin und her überlegt, geplant und wieder verworfen. Doch nun war sie sich ihrer Sache sicher und konnte es kaum erwarten, Sumi ihre Entscheidung mitzuteilen. Sumi, die mit ihr nach Borkum gekommen war und im Haus ihres Vaters schon auf sie wartete. Tjalda dagegen war nicht mit ihnen auf die Insel gekommen, sondern hatte sich dafür entschieden, in Emden zu bleiben, um dort die Ankunft der Maisje zu erwarten, die nun jeden Tag zurückkehren konnte!
Inken warf einen letzten Blick auf den weißen Strand und die Weite des Meeres, dann wandte sie sich um und lief mitraschen Schritten den alten Fischerkaten entgegen, die sie noch vor einem Jahr nicht mehr geglaubt hatte, jemals wiederzusehen.
„Tatsächlich hätte ich sie nicht mehr wiedergesehen ohne Vater“, dachte sie, und Freude stieg in ihr auf. Was war das für ein Freudentag gewesen, als er endlich aus der Gefangenschaft heimgekehrt war. In Gedanken ließ Inken die letzten Wochen und Monate noch einmal Revue passieren.
Vor einem Jahr war ihr Vater „begnadigt worden“, wie es offiziell hieß, und danach sofort nach Hause zurückgekehrt. Die Zeit in Frankreich hatte Spuren bei ihm hinterlassen. Nicht so sehr körperlicher als vielmehr seelischer Art. Zwar hielt er sich immer noch stolz und aufrecht. Seine Stimme hatte ihre Kraft nicht verloren, und seine blassblauen Augen blickten ungebrochen scharf unter den buschigen Brauen hervor. Doch sein Haar war schneeweiß geworden, und die Haft hatte tiefe Falten in sein ausdrucksstarkes Gesicht gegraben, ihm aber nicht seine Strahlkraft nehmen können.
Lange hatten sie über die Zeit der Gefangenschaft gesprochen. „Während wir dort in Kutten gekleidet Karren schieben mussten, habe ich immer an dich gedacht, mein Kind, und daran, dass ein sicherer Hafen hier in Borkum auf mich wartet. Ein unschätzbarer Trost waren diese Gedanken für mich. Das Schicksal schickt uns bisweilen auf unergründbare Reisen. Und von jeder Reise kehrt man mit neuen Erinnerungen beladen zurück. Aber nur durch das Meistern des Schicksals, das Annehmen der Fahrt auf stürmischer See gelangen wir in den Genuss von Lebenserfahrung. Ich wurde nach Frankreich gezwungen, doch dort warteten nicht nur Kummer und Leid auf mich. Ich habe dort Schreckliches und Schönes erfahren und Freunde gefunden, wo es nicht zu erwarten war. Ich konnte natürlich nicht ahnen, dass die Franzosen dir unserZuhause genommen haben.“ Mitleidig hatte er ihren Arm umfasst.
„Wie gut, dass du es nicht wusstest, Vater.“ Inken hatte sich an ihn gedrückt. „Die Zeit unter den Franzosen scheint mir schon so lange zurückzuliegen. Naja, die Regierungsverhältnisse haben sich seitdem ja auch ständig geändert, obwohl das die Menschen hier wenig berührt. Es ist merkwürdig, dass wir innerhalb so kurzer Zeit französisch, holländisch und preußisch waren.“
„Letzteres wären wir Ostfriesen gerne geblieben“, lächelte ihr Vater, „aber auf dem Wiener Kongress hat man uns dann ja anderweitig verkauft. Wenn die Regierenden wüssten, wie wenig all diese Wechsel die Menschen hier an der Küste berühren. Jetzt gehören wir dem Herrschaftsgebiet des Königs von Hannover an, doch das merken wir nur anhand der englischen Beflaggung auf unseren Schiffen.“
Ohne dass die Bevölkerung davon wusste, war bereits im Jahre 1813 in einem Vertrag mit England beschlossen worden, dass einige preußische Gebiete im Falle des Sieges über Napoleon an Hannover abgetreten werden sollten. Ostfriesland gehörte dazu. Und da der König von Hannover gleichzeitig auch König von England war, durfte nur noch unter englischer Flagge gefahren werden.
Aber die Regierungsverhältnisse nahmen eher wenig Raum in ihren Gesprächen ein. Dafür sprachen Inken und ihr Vater stundenlang über die Ereignisse der vergangenen Jahre und natürlich auch über Cirk. Ihr Vater hatte sie in den Armen gewiegt wie ein kleines Kind, als sie von ihrer Enttäuschung, ihrer großen Fehleinschätzung berichtete.
„Vielleicht war alles nur ein Irrtum“, war seine erste Reaktion gewesen, bis Inken ihm von dem Brief erzählt hatte.
„Er ist kurze Zeit nach dem Auslaufen der Maisje als Eilbriefaus England bei mir abgegeben worden. Er war von dieser Engländerin, dieser Lucia. Sie wollte wohl für
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