Die Friesenrose
erleben, mich mit Menschen umgeben können, die mir gefallen, und bräuchte mir keine Sorgen um das Morgen zu machen. Und schon gar nicht um eine Heirat!“ Sie sah ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe, streckte sich selbst die Zunge heraus und nahm dann wieder eine betont gesittete Haltung an. „Nun bin ich aber kein Mann, sondern leider nur eine Frau“, fuhr sie mit einem zuckersüßen Lächeln, das Cirk galt, fort. „Das wird mich abernicht daran hindern, mir meinen zukünftigen Mann selbst auszusuchen. Da kann Großmutter sich noch so sehr bemühen.“
Wer nur ihre Stimme hörte, hätte Lucia für ein trotziges Kind gehalten. Doch als sie sich nun vom Fenster abwandte und langsam auf Cirk zukam, war sie alles andere als das. Lucia trug ein weinrotes, seidig schimmerndes Kleid, das die Schultern frei ließ und ihre zarte Figur zur Geltung brachte und einen schmeichelhaften Kontrast zu ihrem schwarzen glänzenden Haar bildete. Cirk spürte Lucias Anziehungskraft, und er wäre kein Mann gewesen, wenn ihn die Schönheit dieser Frau kaltgelassen hätte. Mit einer wie unbeabsichtigt anmutenden Geste legte Lucia den Kopf graziös in den Nacken. Ihr Ausbruch von vor wenigen Minuten schien vergessen zu sein.
„Cirk, wie schön, dass du heute Abend ebenfalls nicht ausgegangen bist.“ Mit einem Lächeln, das nicht zum Ausdruck ihrer Augen passte, blieb sie dicht neben ihm stehen. Cirk blickte auf sie nieder. Ihre Hand lag auf seinem Arm, warm und feingliedrig. Ihre Schultern hoben sich glatt und weiß aus dem Kleid, und Cirk bemerkte ihren leisen, gleichmäßigen Atem. Er wusste, warum sie sich so auffallend gekleidet hatte. Und er fühlte sein Blut in den Adern pochen. Er räusperte sich. Wie konnte sie nur so zudringlich sein und kaum, dass ihre Großeltern aus dem Haus waren, den letzten Rest an Zurückhaltung fallen lassen? Er wollte diese aufgezwungene Nähe nicht! Dennoch glitten seine Augen ungewollt über ihren Körper. Dunkel und schön war Lucia und verlockend. Wie ein Blitzstrahl durchzuckte Cirk die Erkenntnis, dass sie eine Löwin war, die jagte, und er ihre Beute. Voller Unbehagen löste er sich von ihr und trat einen Schritt zur Seite.
„Cirk, man könnte meinen, du hättest Angst vor mir“, schmollte sie mit gurrender Stimme.
„Genau das“, dachte er. Mit ihrer herausfordernden Art würde diese Frau jeden halbwegs normalen Mann verrückt machen. Und auch für ihn war es nicht gut, diesem Weib zu nahe zu kommen. Sobald man ihr, wenn auch nur aus Höflichkeit, den kleinen Finger reichte, nahm sie die ganze Hand. Das hatte er in den letzten Wochen zur Genüge erfahren. Hätte er sich nur heute gleichfalls ein auswärtiges Ziel gesucht. Aber er hatte angenommen, dass Lucia die Großeltern begleiten und er allein im Haus zurückbleiben würde.
Es wurde wirklich Zeit, dass er seine Zelte hier abbrach. Lucias Annäherungsversuche zerrten an seinen Nerven, und er vermisste Ostfriesland mehr, als ihm lieb war. Ostfriesland – Cirk schüttelte über sich selbst den Kopf. Er machte sich etwas vor! Es war Inken, die er mehr vermisste, als ihm lieb war. Seine Träume waren voll von ihr, und er würde sich wohl oder übel mit der Tatsache anfreunden müssen, dass dieses Mädchen sein Herz gestohlen hatte. Jetzt galt es nur noch, sie davon zu überzeugen, ihn in das ihre zu lassen. Cirk seufzte. Er wollte, er musste sie suchen und finden.
Doch noch immer lag die Hand der Franzosen schwer auf seiner Heimat. Der Handel mit englischen Gütern war mittlerweile fast völlig zum Erliegen gekommen. Gerüchte hatten Cirk erreicht. Gerüchte, nach denen die Bevölkerung Ostfrieslands hohe Strafen zu erwarten hatte, wenn englische Erzeugnisse in ihren Häusern gefunden oder sie beim Kauf derselben erwischt wurden. Auch der für die Friesen lebensnotwendige Tee stand auf der von Napoleon aufgestellten Liste. Cirk wusste, dass selbst diese Gefahr seine Landsleute nicht von ihrem Tun abhalten würde und die Schmuggler schon gar nicht. Aber die Zahl derer, die noch ihr Leben wagten,wurde beständig geringer. Cirk durchmaß das Zimmer mit großen Schritten. Er hatte es satt, hier in der Fremde zu hocken und die Hände in den Schoß zu legen, während die Ostfriesen den Widerstand probten. Thomas warf ihm Leichtsinn vor. Doch Cirk fühlte sich wie in Ketten gelegt. Auch wenn ihm alle auf Rosegarden freundlich begegneten. Manche sogar zu freundlich. Er maß Lucia mit einem Seitenblick. Sie erinnerte ihn an ein
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