Die Friesenrose
unmöglich war. Der schwere Atem von Tante Tine, ihr nicht enden wollendes Husten hielten sie bereits seit zwei Jahren hier gefangen. Zwei endlos lange Jahre, so trostlos, dass es Inken schwerfiel, sich an glückliche Zeiten zurückzuerinnern. Wann war sie jemals unbeschwert gewesen? Und wie war es, ohne Angst aufzuwachen? Inken wusste es nicht mehr. Alles war wie ausgelöscht.
Die Ursache für ihre Angst aber kannte sie ganz genau. Sie lag in diesem Augenblick im Zimmer nebenan auf der Bank. Schon jetzt, am frühen Vormittag, war Onkel Eggo wieder einmal angetrunken. Die Schnapsflasche stand jeden Tag auf dem Tisch, und jeden Tag musste Inken auch den Hass und die Bosheit dieses Mannes ertragen. Von Neid und Missgunst zerfressen, freute er sich unbändig über das Schicksal ihres Vaters und ergötzte sich daran, Inken auszumalen, wie schlecht es ihm in der Gefangenschaft ergehen musste.
Es war ungerecht! Immer noch den Blick in die Ferne gerichtet, ballte Inken die Hände zu Fäusten. Sie war in eine Falle geraten, aus der sie nichts und niemand befreien konnte!
Ein Räuspern zwang Inken in die Wirklichkeit zurück, und sie wandte sich zögernd wieder ihrer Arbeit zu. Ein rascher Blick in die Nebenkammer zeigte, dass Onkel Eggo sie mit zusammengekniffenen Augen argwöhnisch beobachtete.
Inken spürte, wie sie zu zittern begann, und hoffte, dass ihr Onkel es nicht bemerken würde. Den Triumph, ihre Angst zu spüren, gönnte Inken ihm nicht. Es reichte schon, wenn Tante Tine vor ihm kuschte. Ihr Ton war daher auch alles andere als unterwürfig. „Was starrst du mich so an?“
Die Augen ihre Onkels waren blutunterlaufen und glitzerten nun bösartig.
„Du faules Luder sollst arbeiten und nicht in den Tag hineinträumen. Dein Vater hätte dir die Flausen aus dem Kopf treiben sollen, statt dich lesen und schreiben zu lehren. Aber Hinderk war wohl nicht der Hellste. Wie sonst könnte es angehen, dass er sich wegen ein paar lausigen Engländern jetzt den Kopf kürzen lässt. Geschieht ihm ganz recht. Hat mich zeitlebens behandelt wie ein Stück Dreck. Und nun bin ich gut genug, um seine Tochter zu verstecken. Der große Walfänger würde sich wundern, wenn er das hochwohlgeborene Fräulein so sehen könnte, nicht wahr?“
Hämisch glitten seine Augen von ihrem abgetragenen Kleid, dessen Farbe kaum noch zu erkennen war, zu den verschlissenen Schuhen hinab. „Dafür, dass du heute Vormittag Löcher in die Luft gestarrt hast, kannst du heute Nachmittag noch die Ställe ausmisten. Hast wohl geglaubt, dich ins gemachte Nest setzen zu können und keinen Finger rühren zu müssen!“ Seine Stimme triefte vor Hohn. „Wolltest einfach hier unterkriechen und uns zur Last fallen. Aber nicht mit mir! Wer essen will, der muss auch arbeiten. Und wer den Kopf zu hoch trägt, für den ist das Ausmisten des Stalls genau das Richtige. Der Kerl, der dich einmal kriegt, wird mirdankbar dafür sein. Zurechtstutzen muss man euch Frauenzimmer! Besonders solche wie dich, die meinen, einen Mann mit ihrem Äußeren einfangen zu können. So, und nun trödele nicht, du faules Stück, sondern sieh zu, dass wir heute Abend etwas zu essen auf dem Tisch haben.“
Inken biss die Zähne zusammen und zwang sich, nicht zu widersprechen. Denn Tante Tine würde es ausbaden müssen; Onkel Eggo verging sich nur zu gerne mit dem Gurt an ihr. Er war nicht nur niederträchtig und gemein, sondern auch äußerst gewalttätig. Inken spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Wie konnte ein Mann nur so grausam sein und eine kranke Frau schlagen? Eine Frau wie Tante Tine, die so sanft und gut war, so zart und liebevoll. Wie konnte er nur?! Inken atmete tief aus. Es war nicht auszuhalten mit Onkel Eggo, und doch würde sie es aushalten müssen.
Sein wissender Blick erinnerte Inken an das eine Mal, als sie bereits mit gepackten Sachen an der Tür gestanden hatte. „Wenn du gehst, dann schlage ich Tine tot!“, waren seine Worte gewesen, und Inken hatte keinen Grund gehabt, daran zu zweifeln, dass dies keine leere Drohung war. Manchmal glaubte sie fast, an ihrem Hass ersticken zu müssen. Genau wie jetzt, wo die Augen ihres Onkels jede ihrer Bewegungen verfolgten. Die Einschätzung ihres Vaters hatte nicht getrogen. Dieser Mann war ein Lump! Auch sein Äußeres passte gut ins Bild. Von Gestalt her war Onkel Eggo eher klein und gedrungen. Sein Gesicht mit dem fettigen schwarzgrauen Haar und dem ungepflegten Bart besaß einen grausamen Zug um den Mund herum, und in
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