Die Frucht des Bösen
Bald würde der Tag anbrechen. Vielleicht war er schon da. Sie hätte die Augen öffnen und sich davon überzeugen können, war aber noch nicht bereit dazu. Sie brauchte diesen Moment.
«Andrew Lightfoot hat mich vorhin angerufen», sagte sie dann, die Augen immer noch geschlossen.
«Was wollte er?»
«Mich warnen. Vor etwas Schlimmem.»
«Kann dieses Etwas einen Henkerknoten schlingen? Und hat es eine Adresse?»
D. D. öffnete die Augen und richtete sich auf. «Gute Fragen. Die hätte ich ihm stellen sollen.» Sie seufzte und rutschte auf ihrem Sitz zurück. «Ich habe den Namen Tika Solis fallenlassen, worauf er aber nicht anbeißen wollte. Fest steht allerdings, dass er Schwester Danielle kennt. Er bat mich, schonend mit ihr umzugehen. Nicht jeder sei in der Lage zu heilen.»
«Verständlich, dass ein selbsternannter Heiler so etwas sagt. Schließlich geht’s nicht zuletzt um seinen Marktwert.»
«Ah, aber er versteht seine Heilkunst als Geschenk.»
Alex schmunzelte. Er fuhr Richtung North End. «Mord oder Selbstmord?», fragte er unvermittelt.
«Sie sind der Experte. Sagen Sie’s mir.»
«Die Beweislage lässt nur einen Schluss zu», antwortete er.
«Verstehe. Keine Spuren am Tatort, der Hausmeister hat nichts gesehen. Saubere Sache.»
«Sauber, ja. Viel zu sauber. Türgriff, Rollsessel, Lichtschalter – nicht einmal latente Abdrücke einer Neunjährigen sind darauf zu finden. Ziemlich seltsam. Das Mädchen öffnet die Tür, macht Licht, verrückt den Sessel, hinterlässt aber keinen einzigen Fingerabdruck.»
«Verdammt», entfuhr es D. D., die vor Erschöpfung plötzlich nichts mehr spürte.
Alex streckte den Arm aus und legte ihr seine Hand auf die Schulter. «Verrückt gelaufen diese Nacht, nicht wahr? Wir kommen mit einer richterlichen Anordnung und finden eine Leiche.»
«Tja, wer hätte das gedacht.» Alex’ Hand kehrte ans Steuerrad zurück, was ihr wie ein kleiner Verlust vorkam. «Nicht, dass ich … ich meine … Verdammt. Wie soll ich mich ausdrücken? Ich hatte ausnahmsweise wieder einmal ein Date und lande nicht mit dem Kerl im Bett, sondern in einem Haus mit fünf Toten. Von dort geht’s weiter in eins mit sechs Leichen und anschließend auf eine psychiatrische Station, wo ein neunjähriges Kind verschwindet und sich aufhängt, während wir eine der Schwestern vernehmen. Was soll man davon halten?»
«Sie hatten ein Date?», fragte Alex.
«Nichts Ernstes. Es hat nicht einmal bis zum Nachtisch gereicht.»
«Wollen Sie dranbleiben?»
«Ach was, ich weiß schon gar nicht mehr, wie er überhaupt aussah.»
«Gut zu wissen. Wie geht es weiter im Text?»
«Wir haben also einmal fünf, einmal sechs Tote und ein erhängtes Mädchen. Es muss irgendeine Verbindung geben. Nur das ergibt einen Sinn, aber der erschließt sich mir nicht. Wie kommt man von zwei ausgelöschten Familien zu einem erhängten Mädchen?»
Alex schwieg und berührte wieder ihre Schulter.
«Mist», murmelte D. D. Sie schaute zum Fenster hinaus und auf den von der Morgensonne gefärbten Himmel.
Im Stillen nahm sie sich vor, unter den Mitgliedern ihres Teams auf Burn-out-Symptome zu achten. Besonders bei Phil. Es war kaum vorstellbar, dass man aus Tatorten wie diesen einfach so rausspazieren und anschließend seine Kinder ins Bett bringen konnte. Womöglich war sie selbst seit Jahren ausgebrannt, was aber jetzt nicht weiter ins Gewicht fallen würde. Weiß Gott, sie hatte lange Phasen ohne liebevollen Kontakt zu anderen Menschen überstehen müssen. Keine warme Umarmung, keine Küsse auf die Wange. Sie besaß nicht mal einen Hund, mit dem sie Gassi hätte gehen können, oder eine Katze zum Schmusen. Bei ihr zu Hause hätte nicht mal eine Topfpflanze überlebt.
Sie solle mit ihrem inneren Engel in Kontakt treten, hatte Andrew Lightfoot geraten.
Dieser Knallkopf würde in ihrem Department keinen Tag überstehen.
«Ich glaube, Danielle Burton ist unser Schlüssel», murmelte D. D. nach einer Weile. «Sie hatte, als ich sie befragte, einen kleinen Aussetzer. Dann kamen ihr Karen und Freund Greg zu Hilfe. Ihre Chefin ließ durchblicken, dass in Danielles Familie etwas Schlimmes vorgefallen sei, und sagte, dass wir darauf Rücksicht nehmen müssten. Und Andrew Lightfoot hat etwas ganz Ähnliches angedeutet.»
«Der Sportlehrer ist ihr Freund?», fragte Alex neugierig.
«Da bin ich mir fast sicher. Jedenfalls sind sie mehr als bloß Kollegen.»
Alex lächelte. «So wie wir?»
D. D. lachte und fühlte sich
Weitere Kostenlose Bücher