Die Frucht des Bösen
dass sie ihren Dienst vernachlässigt hätten», konterte Karen.
«Vielleicht sollten Sie häufiger mal Ihr Büro verlassen.»
Die Stationsleiterin starrte sie an.
D. D. wartete einen Moment und befand, dass sie lange genug um den heißen Brei herumgeredet hatte. Also kam sie zur Sache: «Ist es nicht merkwürdig, dass in zwei Familien, die Kinder auf Ihrer Station hatten, ein Massaker stattgefunden hat, und zwar wenige Tage vor dem Jahrestag eines ähnlichen Verbrechens an der Familie einer Ihrer Mitarbeiterinnen?»
«Merkwürdig, in der Tat –», hob Karen an.
«Und», fiel ihr D. D. ins Wort, «dann ist da dieses Mädchen, das vergangene Nacht erhängt aufgefunden wurde und für das ebenjene Mitarbeiterin verantwortlich war, die vor exakt fünfundzwanzig Jahren ihre Familie verloren hat. Auch nur ein Zufall?»
«So was kann passieren.»
«Wirklich? Wie viele Kinder erhängen sich im Krankenhaus? Wie viele ehemalige Patienten sind später ermordet worden?»
Karen antwortete nicht. Sie sah so müde aus wie Lightfoot, seufzte und griff nach einer Akte, die auf ihrem Schreibtisch lag. Sie zog eine Liste daraus hervor und schaute D. D. wieder an.
«Wann wurden die Harringtons getötet?», fragte Karen. «Mittwoch? Donnerstag?»
«Donnerstagabend.»
Die Schwester blickte auf die Liste. «Danielle hatte Dienst in dieser Nacht und anschließend auch noch die Tagesschicht am Freitag übernommen.»
«Wann beginnt und endet bei Ihnen die Nachtschicht?»
«Sie beginnt um neunzehn Uhr und endet um sieben am Morgen.»
D. D. überlegte. Die Morde an den Harringtons hatten vermutlich am frühen Abend zur Essenszeit stattgefunden. Bedachte man, wie lange es dauerte, fünf Menschen zu töten, Spuren zu beseitigen und dann von Dorchester nach Cambridge zu fahren … «Wann hat sich Danielle hier angemeldet?»
«Sie war um halb sieben da und hat sich auf ihren Dienst vorbereitet.»
«Und Freitagabend?»
Karen dachte kurz nach. «Die Schicht ging bis sieben, aber Danielle blieb noch, um sich mit mir zu besprechen und Schreibarbeit nachzuholen. Als sie gegen elf fertig war, gab es eine Auseinandersetzung mit Lucy, die einen schlimmen Anfall hatte.»
«Das erklärt wohl die blauen Flecken auf Danielles Hals», sagte D. D.
«Ja. Jedenfalls war Danielle auf der Station, auch wenn das auf ihrem Zeitkonto nicht eingetragen ist. Ich führe selber Protokoll darüber. Das machen wir immer so.»
D. D. presste die Lippen aufeinander. Danielle hatte also ein Alibi für beide Verbrechen, das an den Harringtons und das an den Laraquette-Solis.
«Sie hatte auch gestern Nacht Dienst, als Lucy verschwand», stellte D. D. fest.
«Korrekt.»
«Das heißt, sie arbeitete von Donnerstagabend den ganzen Freitag bis circa elf und war dann zur Nachtschicht am Samstag wieder zur Stelle. Ist das nicht ein bisschen viel?»
«Unsere Mitarbeiter tauschen häufig ihre Dienste, arbeiten gern auch doppelte Schichten, um dann mehr Freizeit am Stück zu haben.»
D. D. schaute die Stationsleiterin verwundert an.
«Außerdem ist Danielle das, was man einen Workaholic nennt», fuhr Karen fort. «Insbesondere zu dieser Zeit des Jahres.»
«Wer außer Ihnen weiß von ihrer Geschichte?», fragte D. D.
«Alle wissen Bescheid.»
«Alle?»
«Ja. So was lässt sich auf Dauer nicht verheimlichen. Früher oder später erfahren es auch die Eltern. Klatsch, Gerüchte. Menschen sind Menschen.»
«Und Sportlehrer Greg? Hat er auch Donnerstagnacht gearbeitet? Und am Freitag?»
Karen blätterte wieder in ihren Unterlagen. «Nein, Donnerstagnacht nicht. Am Freitag hatte er Tagesschicht. Von sieben bis sieben. Und dann war er natürlich letzte Nacht wieder hier, als Lucy …» Die Schwester unterbrach sich.
D. D. musste diese Information verdauen. Danielle hatte also ein Alibi für beide Verbrechen, Greg aber nicht. Gut zu wissen. Wie beiläufig fragte sie: «Was glauben Sie, wen könnte es als Nächsten treffen?»
«Wie bitte?»
D. D. zuckte mit den Achseln. «Die Harringtons wurden Donnerstagabend getötet, die Laraquette-Solis Freitagnacht. Lucy starb in der Nacht auf Sonntag.» Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. «Gleich ist es fünf. Ich schätze, uns bleiben noch ein, zwei oder drei Stunden bis zum nächsten Verbrechen. An einem Kind hier auf der Station? An einer anderen Familie irgendwo da draußen? Der Countdown läuft. Geben Sie Ihren Tipp ab.»
Karen starrte sie fassungslos an.
«Sie glauben, ich mache Witze?», fragte D. D.
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