Die Frucht des Bösen
ich das tun sollen?», erwiderte er. «Damit wir uns wechselseitig einbilden, die Gefühle des anderen nachvollziehen zu können?» Er zuckte mit den Achseln. «Es gibt da ein Zitat; ich weiß nicht, von wem, aber es trifft sehr gut, was ich meine: ‹Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.›»
«
Anna Karenina.
Der einzige Satz, den ich mir aus diesem Buch gemerkt habe.» Ich lehnte mich zurück, steckte die Hände in die Tasche und schmollte. «Die meisten Menschen kennen ihre Familien und wissen, was sie an ihnen haben. Wir aber nicht. Unsere Familiengeschichten bestehen nur aus Fragen. War dein Vater wirklich so schlecht oder deine Schwester so krank? Wir werden nie Antworten darauf bekommen, und das ist es, was einen so fertigmacht.»
«Ich vermisse meine Eltern», sagte Greg nach einem Moment. «Sie waren gut zu mir. Ich wünschte, sie könnten mich heute sehen und stolz darauf sein, dass wenigstens eines ihrer Kinder gut zurechtkommt.»
Ich nickte. Ich dachte ähnlich, wenn ich mir überhaupt erlaubte, mich an meine Familie zu erinnern. Wäre meine Mom stolz auf mich? Würden es Natalie und Johnny gut finden, dass ich mit psychisch kranken Kindern arbeitete? Wahrscheinlich hätten sie mir zu meinem bestandenen Examen gratuliert und sich vielleicht mit mir über meine ersten Erfolge gefreut.
Ich hätte mit Greg ausgehen sollen. Er war ein guter, anständiger Kerl, der bei den Mädchen nur deshalb nicht ankam, weil die meisten Mädchen, mich inbegriffen, zu dumm waren, solche Qualitäten zu würdigen.
«Ich will dir nicht leidtun», sagte er jetzt, merklich ungehalten. «Ich brauche kein Mitleid.»
«Daran habe ich auch gar nicht gedacht.»
«Schau dich nur bei uns um. Die meisten unserer Kinder haben keine Väter, jedenfalls keine, die sich ernstlich für sie interessieren. So ist das Leben. Und wenn wir von unseren Kindern erwarten, dass sie mit diesem Mangel zurechtkommen, sollten wir selbst längst darüber hinweg sein.»
«Ich fänd’s schön, wenn du mich besuchen würdest», sagte ich. «In zwei Wochen, wenn es mir wieder bessergeht. Ich mache uns was zu essen.»
Greg blinzelte. «Bei dir zu Hause?»
«Die Einladung bin ich dir schon lange schuldig. Und übrigens, ich habe keine Mitbewohner.»
Seine Lippen formten ein stimmloses
Oh
, was mir ein gutes Gefühl gab. Doch dann musterte er mich eindringlich aus halb zusammengezogenen Augen.
«Und in zwei Wochen geht es dir wieder besser?», fragte er.
«Das hoffe ich doch.»
«Warum begräbst du deine Vergangenheit nicht endlich, Danielle? Ich beobachte dich seit Jahren, und – ohne dir zu nahetreten zu wollen – dir geht es von Jahrestag zu Jahrestag nicht besser, sondern schlechter. Liegt’s daran, dass du zu viele Fragen stellst oder einfach nur die falschen?»
«Ich weiß nicht. Vielleicht …» Ich seufzte. Die Sergeantin schien immer noch mit ihrer Akte beschäftigt zu sein. Egal. Ich beugte mich näher zu Greg hin und flüsterte: «Vielleicht liegt’s daran, dass ich überhaupt keine Fragen gestellt habe. Ich war wütend und zufrieden damit, einfach nur wütend zu sein. In diesem Jahr aber … habe ich damit angefangen, mir ein paar Dinge vor Augen zu führen. Und ich erinnere mich. Ich habe damals die Pistole meines Vaters ins Schlafzimmer meiner Eltern gebracht. Mein Dad hat mich … nun ja, du kannst es dir vielleicht denken. Jedenfalls wollte ich, dass er damit aufhörte. Meine Mutter wollte, dass ich ihr die Waffe gebe. Sie sagte, sie würde sich um alles Weitere selbst kümmern. Sie hat es mir versprochen.
Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass mein Vater in der Tür zu meinem Zimmer steht und sich in den Kopf schießt. Ich dachte immer, es sei meine Schuld. Ich hatte mich meiner Mutter anvertraut, worauf sie ihn zur Rede gestellt hat. Er ist dann wohl ausgerastet. Ich dachte immer, ich sei der Auslöser dafür gewesen. Davon war ich überzeugt. Inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher. Meine Tante sagt, es habe Eheprobleme gegeben, die nichts mit mir zu tun hatten. Wie auch immer, ich könnte schwören, dass auf dem Wecker 22 : 23 Uhr gestanden hatte, als ich das Schlafzimmer meiner Eltern verließ. Die Polizei kam aber erst gegen eins. Über zweieinhalb Stunden später. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Haben meine Eltern miteinander gestritten? Hat meine Mutter gestanden fremdzugehen und meinen Vater aufgefordert, das Haus zu
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