Die Frucht des Bösen
Es ist vier Uhr in der Früh. Ich bin aus dem Bett, um Inventur zu machen. Evan ist gegen elf, eine Stunde später, dann um zwei und noch einmal um drei Uhr aufgewacht. Jetzt wird er wahrscheinlich bis fünf durchschlafen. Zumindest hoffe ich das.
Ich habe überhaupt nicht geschlafen, aber das ist nicht ungewöhnlich. In den ersten zwei, drei Wochen habe ich sehr darunter gelitten, nicht mehr schlafen zu können. Inzwischen bin ich so daran gewöhnt, dass es mir, wenn ich einmal mehr als drei Stunden am Stück durchgeschlafen habe, richtig dreckig geht. Ich fühle mich wie gerädert und bekomme nichts mehr auf die Reihe. Mein Körper scheint zu merken, dass ihm irgendwas fehlt, und fängt an zu rebellieren.
Für so was habe ich keine Zeit, darum halte ich mich künstlich wach. Mehrmals in der Woche mache ich Inventur, vor allem in der Küche, wo ich alle Gegenstände durchzähle.
Er muss das Messer aus dem Abtropfgestell genommen haben. Ich versuche, gründlich zu sein, funktioniere aber nicht mehr hundertprozentig. Meine Motorik ist inzwischen so eingeschränkt, dass mir x-mal am Tag Sachen aus der Hand fallen. Bei Unterhaltungen sehe ich manchmal nur die Lippenbewegung meines Gegenübers und bekomme selbst kein Wort raus.
Im Fernsehen war mal zu sehen, dass Spezialeinheiten der Navy darauf getrimmt werden, sechsundneunzig Stunden ohne Schlaf auszukommen. Lachhaft.
Sechsundneunzig Stunden, ach Gottchen. Versucht’s doch mal mit acht Jahren!
Fast hätte ich einen hysterischen Anfall gekriegt. So was kommt vor.
Ich versuche, meine eingeschränkten Fähigkeiten optimal zu nutzen, und rechne mir aus, dass Evan, falls er das Messer genommen hat, höchstens drei bis fünf Minuten Zeit hatte, es verschwinden zu lassen, länger lasse ich ihn nicht aus den Augen. Es muss also irgendwo in der Nähe versteckt sein. Bis in den Keller und zurück hätte er es nicht geschafft, und durch den Flur kann er auch nicht gegangen sein, denn das hätte ich gehört. Das Messer wird also noch in der Nähe sein, entweder in der Küche, in der Eingangsdiele, im Ess- oder Wohnzimmer. Es sollte zu finden sein, ich muss nur scharf nachdenken.
Ich krieche über den Küchenboden. Für Licht sorgt nur die indirekte Beleuchtung unterm Hängeschrank. Im Laufe der Zeit sind mir diese dunklen, frühen Morgenstunden, wenn mein Sohn endlich schläft, lieb und teuer geworden. Dann habe ich endlich dreißig, vierzig oder fünfzig Minuten für mich.
Mit einer Taschenlampe schleiche ich in die Diele und halte lauschend inne für den Fall, dass sich oben etwas regt. Ich sehe den Schein der Lampe in Evans Zimmer. Tagsüber besteht er darauf, das Radio in voller Lautstärke laufenzulassen, und nachts verlangt er, dass es in seinem Zimmer hell bleibt. Im Dunkeln hat er Angst vor dem Phantom.
Manchmal flüstert ihm das Phantom etwas zu. Es fordert ihn zum Beispiel auf, mich zu töten.
Ich liebe meinen Sohn. Nie werde ich den Moment vergessen, als ich ihn zum ersten Mal in meinen Armen hielt. Und ich erinnere mich an die endlosen Tage und Nächte, als er – ein unglaublich kleines Geschöpf – unablässig gewiegt werden wollte und mit gierigen Lippen an meiner Brust trank, bis er endlich satt war und einschlief. Ich erinnere mich an den Duft von Talkum, seine seidenen Haare und wie er seufzte, wenn er sich an mich kuschelte.
Evan war ein Frühchen; er kam zehn Wochen vor der Zeit. Ich würde sagen: Schicksal, aber die Ärztin behauptet, es wäre meine Schuld gewesen.
Damals führten Michael und ich ein wunderbar unbeschwertes Leben. Wir wohnten in einem riesigen alten Haus in Cambridge, in das wir viel Arbeit gesteckt hatten, damit es schön zu den anderen historischen Häusern der Nachbarschaft passte. Michael war Vize eines größeren Geldinstituts in Boston und arbeitete viel, während ich unsere vornehme Nachbarschaft als Raumgestalterin beriet. Ich entwarf Küchen für Ärzte, Fensterbehänge für Anwälte und individuelle Sitzmöbel für mehrere Profisportler.
Wir, Michael und ich, kamen beide aus ärmlichen Verhältnissen. Jetzt verbrachten wir die Tage damit, uns teure Designer-Klamotten zu kaufen und abends im Kreis der Schickeria Bostons zu amüsieren. Mal hier zweihundert Dollar für Kosmetik, mal dort irgendeine seltene Antiquität, und Michael füllte seinen Kalender mit karrierefördernden Lunch-Terminen und Verabredungen zu Sportveranstaltungen. Die Wochenenden verbrachten wir im Sommer am Cape und im Winter in unserer «Lodge»
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