Die Frucht des Bösen
Wochen immer und immer wieder Revue passieren. Woran hatte es gelegen? An dem Glas Champagner in der Silvesternacht? An den Dämpfen der Lacke, die ich für das Kinderzimmer ausgesucht hatte? An welcher Stelle war mir ein Fehler unterlaufen? Hätte ich doch bloß den verhängnisvollen Moment ausmachen und die Zeit zurückdrehen können …
Michael pendelte mit aschfahlem Gesicht zwischen Intensivstation und meinem Zimmer hin und her, unschlüssig, wer ihn nötiger brauchte, seine frisch operierte Frau oder sein Sohn, der kaum atmen konnte. Er sprach nicht. Er weinte nicht. Stattdessen war er ständig unterwegs, zehn Minuten hier, zehn Minuten dort, immer in Bewegung, als versuchte er so, die Situation unter Kontrolle zu behalten. Seine dunklen Haare waren über Nacht sichtlich grauer geworden. Seine kräftigen Schultern wirkten eingefallen. Doch er marschierte unentwegt von Station zu Station, hin und her, wie ein Botengänger in geheimer Mission.
Ich dachte, Evan würde rund um die Uhr schlafen, um Energie für sein Wachstum zu sparen, doch immer wenn der Tropf oder die Ernährungssonde neu justiert wurden, wachte er auf und starrte uns aus weit aufgerissenen Augen an, als versuchte er, sich in dieser fremden neuen Welt zu orientieren.
«Eine Kämpfernatur», sagten die Schwestern und freuten sich über seine unkoordiniert zappelnden Fäustchen. «Ein gutes Zeichen. Der Kleine hält sich wacker.»
Und wie zur Bestätigung trat er mit den kleinen Beinchen aus.
Schließlich erlaubte man mir, seine Wange zu berühren. Dann, eines Tages, durfte ich ihn sogar an die Brust legen. Michael stand neben mir und drückte meine Schulter so fest, dass es wehtat.
Evan schlug wieder die Augen auf, die in seinem winzigen, schrumpeligen Gesicht übergroß wirkten. Er starrte uns an.
Und wir taten, was Eltern auf einer Intensivstation für Säuglinge so tun.
Wir gelobten hoch und heilig, auf alles verzichten zu wollen – auf unser schönes Haus, unseren Luxus und beruflichen Ehrgeiz; selbst unser Leben wollten wir hingeben, alles daransetzen und jedes Risiko eingehen –
Wenn nur unser Sohn überlebte.
Ich kann das Messer nicht finden, dabei habe ich überall gesucht: im Topf des Ficus, in allen Ecken und zwischen sämtlichen Falten der zerfetzten Vorhänge. Ich schaue unter den Kissen auf dem Sofa nach, hinterm Fernsehen und der Stereoanlage. Ich kenne seine Verstecke und leuchte mit der Taschenlampe in alle Lücken und Ecken. Doch das Messer ist nirgends zu finden.
Er hat es. Ich weiß, dass er es hat.
Er will mich austricksen.
Bald geht die Sonne auf, die Dämmerung wird bereits heller, und ich bin so müde, dass ich weinen könnte.
«Mommy.»
Ich wirbele herum. Evan steht hinter mir. Er trägt seinen Lieblingspyjama mit den
Star Wars-
Motiven und hat die Hände hinterm Rücken versteckt.
Ich schnappe nach Luft und richte den Strahl der Taschenlampe auf sein bleiches Gesicht. Er soll nicht sehen, wie verängstigt ich bin.
«Evan. Zeig mir deine Hände.»
«Ich möchte Chelsea sehen.»
«Jetzt nicht.»
«Ist schon Morgen, Mommy?»
«Nein, noch nicht. Was hast du da im Rücken, Schatz?»
«Können wir Chelsea sehen?», fragt er wieder.
«Jetzt nicht», wiederhole ich bestimmt, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
«Ich will in den Park», sagt er.
«Wenn es hell ist, Schatz.»
«Ich will einen neuen Freund haben.»
«Evan, geh wieder ins Bett.»
Urplötzlich streckt er die Arme aus und dreht die Handflächen nach oben, um mir zu zeigen, dass er nichts in der Hand hat. Er blickt völlig arglos drein, doch als ich genauer hinsehe, erkenne ich ein verschlagenes Blitzen in seinen Augen. Seine Mundwinkel haben sich kaum merklich in die Höhe gezogen.
Er weiß, wonach ich suche.
Er weiß, dass es in seinem Besitz ist und ich nicht weiß, was ich tun soll.
Ich sehe wieder dieses Blitzen in seinen Augen und spüre, wie es mir kalt den Rücken herunterläuft. Evan ist in diesem Haus nicht der Einzige, der sich vor dem Phantom fürchtet.
Ich atme tief durch, schalte die Taschenlampe aus und lege ihm eine Hand auf die Schulter. Er scheint entspannt zu sein und lässt sich von mir nach oben führen, dem gelblichen Licht entgegen, das aus seinem Zimmer scheint. Ich helfe ihm ins Bett, packe ihn unter die Decke und streiche ein paar blonde Locken aus seiner Stirn. Die Lider werden ihm schwer. Es schläft schon fast.
«Ich liebe dich, von hier bis zum Mond und zu den Sternen und wieder zurück», zitiert er
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