Die Frucht des Bösen
erkennbaren Rippen und Beckenknochen. Auf der linken Seite ist ein riesiger grün-gelber Bluterguss. Evan hatte mich die Treppe hinuntergestoßen. Auf dem rechten Bein prangen frischere Flecken, violette und rote Striemen auf dem Unterarm. Ich sehe alt und geschunden aus und würde am liebsten heulen.
Um Schönheit und Jugend, mit denen es allzu schnell vorbei ist. Um die Träume, von denen ich glaubte, dass sie in Erfüllung gehen könnten.
Es gibt Dinge, die, wenn man sie einmal aufgegeben hat
…
Aber ich will sie zurückhaben. Lieber Gott, wie oft sehne ich mich danach, sie zurückzuholen?
Zwei Uhr. Um zwei Uhr wird sich alles wenden. Ich drehe die Dusche auf, steige in die Wanne und fange an, mir die Beine zu rasieren.
Fast eine Stunde später – in meiner Welt eine Ewigkeit – kehre ich nach unten zurück. Ich habe mir Zeit gelassen, um mich mit meiner Lieblingslotion, die nach Rosen duftet, einzureiben. Ich habe mir die Nägel poliert, die Füße mit einem Luffaschwamm massiert und meine Haare mit einem speziellen Conditioner behandelt. Wenn schon nicht schöner, so bin ich doch immerhin gepflegter als sonst. Mehr kann ich nicht tun.
Evan hängt auf dem Sofa. Die Lautstärke des Fernsehers ist voll aufgedreht, und der History Channel ist vom Tunnelbau in England zum «Big Dig» in Boston übergegangen, die Unterführung der Stadtautobahn. Das Sandwich ist aufgegessen. Evans Augen wirken glasig. Zuerst die Ativan-Gabe am Morgen, jetzt dieses Mittel.
Ich setze mich neben ihn und streiche seine blonden Haare aus der Stirn. Er schaut mich an.
«Hübsch», sagt er mit schwerer Zunge, und es überrascht mich selbst, dass ich lächeln kann, obwohl mir gleichzeitig das Herz bricht.
«Ich liebe dich.»
«Müde», sagte er.
«Möchtest du dich ausruhen?»
«Ich will fernsehen», brüllt er, noch nicht ganz unter dem Einfluss des Medikaments. «Danach vielleicht.»
Er rückt von mir ab und richtet seinen Blick zurück auf den magischen Kasten. Wir sitzen Seite an Seite. Mein Sohn versinkt allmählich im Vergessen, während ich an meinem Push-up- BH herumnestele.
Im Fernsehen läuft Werbung. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Jetzt oder nie. Ich greife zur Fernbedienung, schalte den Fernseher aus und warte auf Evans Protest. Nichts. Seine Kinnlade hängt schlaff herab. Gleich wird er eingeschlafen sein.
Er murrt nicht, als ich seinen Arm über meine Schulter lege und ihn nach oben schaffe. Obwohl schon acht Jahre alt, ist er federleicht, was, wie man uns sagte, an seinem permanenten Erregungszustand liegt. Er kann so viel futtern, wie er will, er nimmt nicht zu.
Angezogen, wie er ist, packe ich ihn ins Bett. Er schläft an diesem Tag nun schon zum zweiten Mal, wofür ich später bezahlen werde. Mit einer langen, schlaflosen Nacht nämlich, in der mein Sohn die unangenehmen Nachwirkungen ausleben und das Haus auf den Kopf stellen wird.
Doch das nehme ich in Kauf. Immerhin stehen mir zwei Stunden zur Verfügung.
Ich schaue auf meine Uhr. Drei Minuten noch.
«Mommy», murmelt er.
«Ja, Evan?»
«Liebe dich.»
«Ich liebe dich auch, mein Schatz.»
«’schuldigung.»
«Wofür?»
«Heute Morgen. Ich habe ihm nicht wehgetan. Hätt’ ich nie getan. Ich wollte nur … einen Freund. Niemand kann mich leiden. Nicht einmal Daddy.»
Ich streichele wortlos seine Wange und sehe, wie sich seine schweren Lider langsam schließen. Gern würde ich ihm sagen, es sei alles in Ordnung, wir würden morgen wieder in den Park gehen. Er könne sich dort mit anderen Kindern anfreunden und dass sein Vater ihn nach wie vor liebte.
Stattdessen schleiche ich in den Flur hinaus und schließe die Tür zu seinem Zimmer ab.
Es klingelt unten an der Tür.
Ein letzter nervöser Griff ins Haar. Dann laufe ich die Treppe hinunter.
Mein Lover steht vorm Eingang. Er ist lässig angezogen, sein weißes T-Shirt spannt sich um seine Brust. Seine Haare locken sich feucht im Nacken. Er duftet nach Seife und Sonnenschein. Ich möchte im Moment nichts weiter als diesen Duft in mich aufnehmen. Jugend, Freiheit, sorglose Tage.
Es ist der Duft dessen, was ich verloren habe, und das reizt mich manchmal an ihm am meisten.
«Ich kann nur eine Stunde bleiben», erklärt er. Ich habe nichts anderes erwartet. Zu Beginn unserer Affäre hat er sich mehr Zeit gelassen, mit Vorspiel, Bettgeflüster und der wonnevollen Entspannung danach. Dann machten sich Veränderungen bemerkbar. Er war weniger charmant, stellte
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