Die Frucht des Bösen
besteht auf einer formellen Untersuchung des Vorfalls, was ich ihr nicht verdenken kann. Es ist unvorstellbar, dass ein Kind zwei streng gesicherte Schleusen passiert, ohne dass eine Schwester oder ein sonstiger Mitarbeiter Wind davon bekommt. Um Himmels willen, wir können von Glück sagen, dass nichts Schlimmeres passiert ist.»
«Ich habe sie doch gefunden», protestierte ich. «Ich war diejenige, die wusste, wo Lucy steckte, und sie zurückgebracht hat.»
«Du warst diejenige, die sie gar nicht erst hätte entwischen lassen dürfen.»
Ich ließ denn Kopf hängen und gab mich angemessen beschämt.
«Dann gestern Abend. Mir ist zu Ohren gekommen, dass ihr, du und Lucy, für ein paar Runden in den Ring gestiegen seid. Und deinem Gesicht nach zu urteilen, warst du die Unterlegene.»
«Ich habe mich der Situation entsprechend verhalten –»
«Du warst nicht einmal im Dienst, Danielle. Hättest eigentlich schon zu Hause sein sollen.»
«Lucy hat hysterisch zu schreien angefangen. Was hätte ich tun sollen? Ruhig dabeisitzen und zuschauen? Wir mussten sie beruhigen, und ich konnte mir das am ehesten zutrauen.»
«Danielle, ein Kind hat dich tätlich angegriffen. Dein Gesicht ist zerkratzt und dein Hals voller Blutergüsse. Um Lucy mache ich mir keine Sorgen; du
hast
sie beruhigt. Aber um welchen Preis? Wir müssen uns im Team absprechen. Du brauchst psychische und emotionale Unterstützung, gehst aber deiner Arbeit nach, als wäre dem nicht so. Das ist nicht gesund.»
«Mir geht es gut –»
«Aber danach siehst du nicht aus.»
«Wen wundert’s?», schnaubte ich. «Ich werde verdammt noch mal nicht jünger.» Es ging mit mir durch. Mein Herz raste, und ich wäre am liebsten weggerannt.
«Hast du getrunken?», fragte Karen.
«Nein.»
Noch nicht.
«Das freut mich zu hören. Trotzdem, du kannst heute Nacht nicht arbeiten.»
«Ich
muss
heute Nacht arbeiten. Es macht mir auch nichts aus. Ich bin Profi, und wir beide wissen, dass ich meinen Job gut mache.»
«Ja», entgegnete sie freundlich. «Aber du bist zurzeit nicht hundertprozentig fit. Unsere Kinder verdienen aber deine ganze Kraft und Aufmerksamkeit.»
Ich konnte es nicht glauben. Karen wollte mich tatsächlich nach Hause schicken und nahm in Kauf, dass die Nachtschicht unterbesetzt sein würde.
«Geh bitte nach unten und lass dich untersuchen», sagte sie mit fester Stimme. «Das mag dir überflüssig erscheinen, aber wir brauchen ein Attest für die Versicherung. Ich möchte, dass du dir fünf Tage freinimmst. Dass du dich ausruhst. Sieh zu, dass es dir wieder bessergeht. Danach kannst du dich wieder in die Arbeit stürzen.»
Ich kann nicht nach Hause, ich kann nicht nach Hause, ausgeschlossen.
«Gut», hörte ich mich sagen. «Ich besorge mir ein Attest. Aber dann komme ich zurück, okay? Wenn der Arzt sagt …»
«Danielle …»
«Wenn ich mal was dazu sagen darf –»
Ich blickte auf. Karen drehte sich um. Hinter ihr stand Greg. Wir hatten ihn nicht kommen hören. Es schien, dass er uns schon eine Weile zugehört hatte.
Er sah gut aus. Seine dunklen Haare waren noch feucht vom Regen. Er hatte einen schwarzen Matchbeutel über die breiten Schultern geworfen.
«Sie kann mit mir arbeiten», sagte er, den Blick auf Karen gerichtet. «Wir bilden ein gemischtes Doppel. Vier Augen sehen mehr, und du brauchst dir um Danielle keine Sorgen zu machen.»
Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Wie viele Körbe hatte er sich schon von mir eingehandelt, und doch war er der beste Freund, den ich hatte.
Karen wollte protestieren, besann sich aber im letzten Augenblick. Hinter ihrer strengen Fassade hatte sie ein gutes Herz. Weiß Gott, einmal im Jahr brachte sie mir gegenüber mehr Nachsicht auf, als ich verdient hatte.
«Geh bitte nach unten», wiederholte sie. «Lass dich von einem unserer Ärzte checken. Wenn er sein Okay gibt und Greg immer noch den Babysitter zu spielen bereit ist …»
Sie wollte mich provozieren, um zu sehen, ob ich mich unter Kontrolle hatte. «Einverstanden», antwortete ich so fest wie ich konnte. «Ich freue mich auf die Schicht mit Greg. Wir sind ein gutes Gespann.»
Ich hielt ihm schamlos einen kleinen Finger hin. Er lächelte, aber seine Augen blieben ausdruckslos. Wahrscheinlich kannte er mich besser, als ich dachte.
Karen kehrte mir den Rücken zu, zwängte sich an Greg vorbei und ging ins Schwesternzimmer zurück. Es war schon fast Mitternacht. Sie hatte bestimmt noch Papierkram zu erledigen, bevor sie nach
Weitere Kostenlose Bücher