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Die Frucht des Bösen

Die Frucht des Bösen

Titel: Die Frucht des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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Hause ging. Eine Stationsleiterin bekam nicht viel Schlaf.
    Allein mit Greg fühlte ich mich wieder ein bisschen befangen. Er öffnete seinen Spind und stopfte seinen Beutel hinein. Ich rührte mich nicht vom Fleck. Er sah erschöpft und übernächtigt aus, dachte ich. Aber vielleicht sah ich mich nur selbst.
    «Danke», sagte ich endlich.
    Er wich meinem Blick aus. «Die Nacht ist noch jung», erwiderte er. «Dank mir nicht zu früh.»
     
    Die Polizei traf kurz nach halb zwei ein. Sie klingelte an der Tür – ein, zwei, drei Mal. Sie konnten uns sehen. Wir konnten sie sehen. Sie mussten sich gedulden.
    Die Station war in Aufruhr. Jorge, der sich ein Zimmer mit Benny teilte, war um halb eins aufgewacht. Ed hatte Jorge in den Aufenthaltsraum geführt und ihm aus einem Buch vorgelesen. Nach ein paar Minuten hatte der Junge ihm das Buch aus der Hand gerissen und durch den Raum geschleudert, Aimee direkt an den Kopf. Die schrie wie am Spieß, und bald waren alle Kinder auf den Beinen.
    Jetzt lag Aimee in Fötushaltung unterm Tisch. Jimmy und Benny rannten um Tische und Bänke, und der neunjährige Sampson stand vor der verschlossenen Küchentür und verlangte lauthals nach einem Snack.
    Ich war nach der ärztlichen Untersuchung gerade rechtzeitig zurückgekommen, um die fünfjährige Becca davon abzuhalten, auf jeden, der ihr in die Quere kam, mit einem zusammengeklappten Spielbrett einzudreschen. Greg versuchte währenddessen, Ed von Jorge zu befreien, während Cecille Lucy in ihrem Zimmer in Schach hielt, weil um jeden Preis verhindert werden musste, dass sich die Kleine auch noch ins Getümmel stürzte.
    Irgendwann drückte ich den Öffner am Empfangsschalter, um die Polizei hereinzulassen. Ich war gerade damit beschäftigt, Candy Land und Becca auf Abstand zu halten, als sie reinspaziert kamen – die Blondine voran, gefolgt von drei Kollegen in dunklen Anzügen.
    «Ich habe eine richterliche Anordnung», sagte die Frau.
    Ein Buch flog durch die Luft, und ich konnte einen Eindruck davon gewinnen, wie blitzschnell unsere Bostoner Polizei zu reagieren vermochte.
    «Du lieber Himmel …», murmelte die Sergeantin, als ihr bewusstwurde, was bei uns abging.
    «Sie müssen sich noch eine Weile gedulden», entgegnete ich. «Am besten, Sie stellen sich mit dem Rücken zur Wand. Rühren Sie nichts an. Oh, und passen Sie auf. Ich fürchte, Jorge ist wieder auf freiem Fuß.»
    In der Tat, der kleine, drahtige Junge von sechs Jahren rannte durch den Flur auf uns zu. Er ruderte heftig mit den dünnen Armen und hatte die Augen weit aufgerissen, als säße ihm eine Heerschar böser Geister im Nacken. Ich kannte das Gefühl.
    Ich bekam seine Taille zu fassen, als er vorbeiflog, und wandelte seinen Schwung in ein anmutiges kleines Tänzchen um, das wir mindestens einmal pro Woche praktizierten. «He, mein Kleiner, wo brennt’s denn?», fragte ich möglichst gelassen.
    «Böser Mann, böser Mann, böser Mann, böser Mann!», brüllte Jorge.
    «Hast du schlecht geträumt,
chiquito
? Klingt ja schrecklich. Warum bist du nicht gleich zu mir gekommen. Gemeinsam hätten wir die bösen Männer verscheuchen können.»
    «¡Maldito, maldito, maldito!»,
jammerte Jorge, als ich ihn durch den Flur zurückführte. Ed und Greg warfen mir dankbare Blicke zu und eilten weiter, weil Aimee gerettet werden musste. Außerdem mussten Jimmy und Benny auseinandergebracht werden, und dann war da auch noch Sampson, der unbedingt etwas zu essen haben wollte.
    In Jorges Zimmer angekommen, schaltete ich alle Lichter ein und suchte mit großer Geste jede Ecke, jeden Winkel ab. Ich schüttelte sogar die Decken aus, um zu beweisen, dass sich kein Monster im Bett versteckt hielt. Weil er immer noch nicht überzeugt zu sein schien, versuchte ich es mit Plan B, zog die Matratze hinaus in den Flur und richtete ihm ein Notquartier ein. Wir streckten uns Seite an Seite aus. Ich zeigte auf die verspiegelten Halbkugeln unter der Decke und erklärte ihm, dass man darin sehen könne, ob sich böse Männer nähern würden oder nicht. «Diese Spiegel sind zu unserem persönlichen Schutz da», sagte ich. «Du kannst dich ganz sicher fühlen.»
    Jorge beruhigte sich allmählich. Er kuschelte sich an mich und reichte mir ein Dora-Buch. Schon nach den ersten Seiten fielen ihm die Augen zu. Auf der Station war es wieder ruhig geworden.
    Die Detectives standen noch an Ort und Stelle in ihren dunklen Anzügen. Greg unterhielt sich mit ihnen. Ich konnte allerdings nicht

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