Die Frucht des Bösen
sagen, habe ich sie mir eines Tages angesehen. Die Zimmer – oder genauer gesagt Zellen – waren klein und düster; wer darin wohnte, hatte tatsächlich nicht unter Reizüberflutungen zu leiden.
An der Tagesordnung standen Selbstdisziplin und schwere körperliche Arbeit. Es roch wie in einem Altersheim. Ich konnte mir einen Siebenjährigen in diesem Loch einfach nicht vorstellen, geschweige denn Evan mit seinem strahlenden Lächeln und ansteckenden Lachen.
Also behielt ich ihn zu Hause, und mein Mann und unsere Tochter zogen aus.
Ich weiß nicht, ob ich eine gute Mutter bin. Zugegeben, Evan ist nicht das, was ich mir unter einem Wunschkind vorgestellt habe, und von meinem Leben habe ich mir auch mehr erhofft. Ich stehe jeden Morgen auf und gebe mein Bestes. An manchen Tagen gebe ich zu viel, an anderen nicht annähernd genug.
Aber ich bin keine Märtyrerin.
Daran gibt es keinen Zweifel, denn um 14 Uhr werde ich etwas tun, das ganz und gar nicht in Evans Interesse ist.
Aber das ist mir egal.
Gegen Mittag treffe ich Vorbereitungen. Ich schmiere für Evan ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade, unter die ich eine zerstoßene Valium gemischt habe. Man frage mich nicht, wo ich das gelernt habe. Man frage mich nicht, unter welchem Druck eine Mutter steht, wenn sie diverse Medikamente mörsert und unters Essen rührt. Fürs Protokoll: Süßes wie Marmelade oder Honig eignet sich am besten, um bittere Medizin zu verstecken. Gegrillten Käse kann man vergessen; ich war einmal Stunden damit beschäftigt, die Fettflecken von unseren Glasschiebetüren zu putzen.
Ich serviere das Sandwich mit Apfelspalten und einer Tasse Milch auf dem Kaffeetischchen. Evan taucht auf. Im Wohnzimmer zu essen bedeutet, dass er fernsehen kann. Ein seltenes Vergnügen für ihn. Sein Wutanfall nach dem morgendlichen Drama auf dem Spielplatz hat sich gelegt.
Ich schalte seinen Lieblingssender ein, den History Channel. Evan kann sich nicht sattsehen an historischen Dokumentationen, Berichte über Pompeji, chinesische Terrakotta-Krieger oder die
Titanic
. Auch Sachbücher liest er gern. Er schaut sich Kunstbücher an, Lithographiesammlungen – all das fasziniert ihn.
Das hat er von seinem Vater, was Michael nie erfahren wird.
Zurzeit berichtet der History Channel vom Tunnelbau zwischen England und Frankreich. Man sieht riesige Maschinen und Männer mit dreckverschmierten Schutzhelmen. Evan greift nach einer Sandwichhälfte und starrt wie gebannt auf den Bildschirm.
Ich gehe in den Flur und schaue nach, ob die Eingangstür verriegelt ist. Schon mit drei Jahren hat Evan gewusst, wie man die Vorhängekette abnimmt, um nach Lust und Laune verschwinden zu können. Auch die Glasschiebetüren waren bald kein Hindernis mehr für ihn. Deshalb sind die Türen jetzt doppelt gesichert. Es gibt nur einen Schlüssel, und den trage ich an einer Halskette. Wenn im Haus ein Feuer ausbricht und ich finde den Schlüssel nicht, werden wir darin verbrennen.
Jedenfalls kann er so nicht abhauen, während ich dusche.
Ich gehe ins Bad, ziehe mich aus und werfe einen Blick in den Spiegel, obwohl ich weiß, dass ich das besser lassen sollte. Ich war einmal eine schöne Frau, eine jener schlanken hellblonden Nymphen, nach denen sich die Männer umdrehen. Ich war mir meiner Attraktivität bewusst und machte sie mir gezielt zunutze, um aus der Schrottlaube von Trailer herauszukommen, in dem ich lebte. Mein Aussehen war mein Ticket nach draußen.
Ich nahm an Schönheitswettbewerben teil und gewann bescheidene Geldsummen, woraufhin mir meine eifersüchtige Mutter das Bankkonto plünderte. Doch ich ließ mich nicht entmutigen, bewarb mich erfolgreich um ein Stipendium und studierte am College, wo ich Michael kennenlernte. Ich erkannte sofort, dass er ähnlich tickte wie ich. Attraktiv, ehrgeizig und verzweifelt. Wir hatten in unseren jungen Jahren schon genug durchgemacht und wollten uns nichts mehr gefallen lassen.
Er war der erste Mann, mit dem ich schlief. Da war ich zwanzig, doch meine Mutter hatte mich schon mindestens sechs Jahre lang als Nutte bezeichnet.
Ich weinte in dieser Nacht. Michael hielt mich in seinen Armen und gab mir tatsächlich das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Bei den Schönheitswettbewerben hatte ich Titel gewonnen, doch es war Michael, bei dem ich mir wie eine Prinzessin vorkam.
Wie eine Schönheitskönigin sehe ich nicht mehr aus. Mein Gesicht ist eingefallen, meine Haut fast wie Pergament, viel zu dünn auf den deutlich
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