Die Frucht des Bösen
der Obduktion im Fall Patrick Harrington. Wenn er Brandspuren am Körper hatte, war eine Verbindung zwischen beiden Fällen zweifellos hergestellt.
«Neil», sagte sie und tippte mit dem Marker auf den letzten Eintrag. «Geh bitte zurück in die Gerichtsmedizin und mach Druck auf Ben. Zwei Tage sind zu lang. Wir brauchen den Bericht spätestens morgen, auch wenn er nur vorläufig sein sollte. Die Zeit drängt.»
Plötzlich klopfte es, und Phil steckte seinen Kopf zur Tür herein.
«Habt ihr mich denn gar nicht vermisst?», fragte er. «Ich habe euch überall gesucht. Warum seid ihr hier?»
«Mehr Platz», antwortete D. D. «Neil kam mit der interessanten Neuigkeit aus der Gerichtsmedizin zurück, dass Hermes Laraquette mit einem Taser erledigt wurde. Der Selbstmord war fingiert. Wenn wir eine Verbindung zwischen den Fällen Harrington und Laraquette-Solis herstellen können, suchen wir nach einem Täter, der es auf Familien abgesehen hat. Und was hast du den Nachmittag über getrieben?»
«Sag mir, dass du mich liebst.»
«Dann musst du mir mehr als einen Cheeseburger anbieten.»
«Es ist definitiv mehr. Ich habe die gesuchte Verbindung hergestellt. Ihr erinnert euch an die vierjährige Laraquette, die mit den Schnittwunden am ganzen Leib.»
Schwer zu vergessen, dachte D. D. und nickte mit dem Kopf.
«Nach Auskunft des Jugendamtes wurde das Mädchen vorübergehend psychiatrisch behandelt. Und wisst ihr was? Nicht Mommy und Daddy haben ihr die Verletzungen zugefügt. Sie war’s selbst. Eine Form von Selbstverstümmelung, die manchmal mit Neurosen, Depressionen, Angstzuständen und so weiter einhergeht. Um es kurz zu machen: Das Mädchen hat sich geritzt, und zwar mit allem, was sie in die Finger bekommen konnte. Nun, und vor neun Monaten fand Tika eine Rasierklinge und machte sich an ihrem Hals zu schaffen. Die Mutter bemerkte es erst, als die Kleine schon im Blut schwamm. Von der Notaufnahme des Krankenhauses hat man sie dann wohin gebracht, na?»
Phil wartete auf einen Trommelwirbel, wie es schien.
D. D. zählte zwei und zwei zusammen, doch Phil kam ihr zuvor.
«In die Kinderpsychiatrie von Boston. Genau dorthin, wo auch Ozzie Harrington untergebracht war.»
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20 . Kapitel
Victoria
Bin ich eine gute Mutter?
In den Monaten vor unserer Trennung behauptete Michael immer wieder, Evan würde unter meinen persönlichen Schwächen leiden. Ich würde mich weigern, ihn und seine Probleme objektiv zu betrachten. Ich würde nicht einsehen wollen, dass er durch andere – und vielleicht auch andernorts – besser gefördert werden könne.
Indem ich mir einredete, die einzige Person zu sein, die ihm helfen könne, würde ich mich der übelsten Form von Hybris schuldig machen. Ich sei arrogant, egozentrisch und würde meine Bedürfnisse über die meines Sohnes stellen – ganz zu schweigen davon, dass ich seine Belange als Ehemann und die unserer Tochter ignorierte. Statt die Familie zusammenzuhalten, wie es sich für eine Mutter gehörte, legte ich es auf deren Zerrüttung an.
Nach Michaels Auffassung waren Evans Wutausbrüche, Gewalttätigkeiten und Schlafprobleme meinem Fehlverhalten zuzuschreiben. Wäre ich eine bessere Mutter, ließe sich Evan auch besser führen, vorzugsweise in einer geschlossenen Anstalt. Wir könnten ihn dort besuchen, und seine Schwester würde ihn vergessen.
Spiel nicht länger die Märtyrerin
, hatte Michael immer wieder gesagt.
Es geht hier nicht um dich, sondern um das, was das Beste für ihn ist. Verdammt, wir können es uns leisten
, fügte er meist hinzu, als wäre Evan irgendein Umbauprojekt, in das man nur genügend Geld stecken müsste, damit am Ende herauskam, was wir wollten.
Fürs Protokoll: So einfach ist es auch wieder nicht, mein Kind irgendwo unterzubringen. Es gibt nur sehr wenige Einrichtungen, die in Frage kommen. Die guten haben lange Wartelisten. Die schlechten sind nicht viel besser als Hochsicherheitsgefängnisse. Nach der Brechstangenepisode sagte mir Evans dritter Arzt, er könne sich für uns einsetzen und Wunder bewirken. Sein Empfehlungsschreiben betreffs der kurzfristigen Aufnahme in einem Heim unserer Wahl wäre so wirksam wie die Fürsprache eines Promis, der sich für die Immatrikulation eines Studenten in seinem ehemaligen College starkmachte.
Die Einrichtung, die er uns empfahl, war früher einmal ein Kloster gewesen und bekannt für ihre spartanische Ausstattung und strenge Ordnung. Ohne Michael etwas davon zu
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