Die Früchte der Unsterblichkeit
die Mauern herrührte. Schlanke Türme ragten in schwindelerregende Höhen, umgaben das von einer Kuppel gekrönte Hauptgebäude. Die Türme waren durch elegante begehbare Mauern miteinander verbunden, die ätherisch anmuteten, so als seien sie aus Spinnennetz gewebt oder von geduldiger Hand aus Elfenbein geschnitzt. Die kunstvollen Haupttore standen stets offen, genauso wie die Wachstuben und die Kriegsmaschinen entlang der massiven Mauern immer bemannt waren.
Ich hielt auf einem etwas abseits gelegenen Parkplatz und stupste Raphael an, damit er endlich Kates Buch beiseitelegte.
Etwa hundert Meter vor den Toren blieben wir gleichzeitig stehen. Der Gestank der Untoten hing wie ein widerlicher Pesthauch über dem Gelände. Mit Worten ließ es sich nur ungenügend beschreiben, aber wer es einmal gerochen hatte, vergaß es nie wieder. Es war ein beißender, lederartiger Gestank, der unverkennbar nach Tod, nicht aber Verwesung roch. Sehnen und Knochen in faulige Magie gehüllt. Mir kam fast das Essen wieder hoch. Raphael ging langsamer weiter und ich tat es ihm gleich.
Zwar hatte ich ein Sondertraining durchlaufen, um mich an Gegenwart und Geruch von Vampiren zu gewöhnen, aber einen perfekt kontrollierten Vampir aus zehn Meter Entfernung anzuschauen und in eine Höhle mit über dreihundert dieser Monster hineinzumarschieren, waren doch zwei Paar Schuhe.
Wir gingen durch die Tore an zwei schwarz gekleideten, mit geschwungenen Krummsäbeln bewaffneten Wachposten vorbei und standen schließlich inmitten eines Meers aus Spielautomaten. Infernales Gebimmel und Geklingel erfüllte den Raum. Lichtblitze zuckten. Menschen schrien euphorisch auf, fluchten, lachten. Über die Hälfte der Automaten waren so umgebaut worden, dass sie auch ohne Strom funktionierten. Selbst während einer Magie-Flut würden die einarmigen Banditen den Menschen weiter erbarmungslos das Geld aus den Taschen ziehen und damit die Kassen des Volks füllen. Nekromantische Forschung war eben nicht billig.
An einem Tresen machten wir Halt. Ich nannte dem jungen Mann im Anzug meinen Namen, zog meinen Gildeausweis hervor und erklärte, dass ich Ghastek sprechen wollte. Der Jüngling, der sich uns als Thomas vorgestellt hatte, setzte sogleich ein professionelles Lächeln auf. »Es tut mir schrecklich leid, aber Ghastek ist sehr beschäftigt.«
»Richten Sie ihm aus, ich sei im Auftrag von Kate Daniels hier.«
Thomas riss die Augen auf. Dann wählte er sich in die Haussprechanlage ein und flüsterte in den Hörer. »Leider befindet er sich in den Ställen und ist dort momentan nicht abkömmlich. Er möchte Sie aber unbedingt sehen und schickt unverzüglich jemanden, der Sie zu ihm führen wird.«
Wir gingen hinüber zum Wartebereich. An der Wand standen Stühle, doch nach Hinsetzen war mir nicht zumute. Ich hatte das Gefühl, auf meiner Brust prangte eine riesige Zielscheibe und ein Dutzend Scharfschützen lag schon mit dem Finger auf dem Abzug auf Lauer.
Um Raphaels Lippen spielte ein seltsames Lächeln. Wer ihn nicht kannte, konnte das leicht für das verträumte Lächeln eines Mannes halten, der seinen eigenen privaten Gedanken nachhing. Dieses kleine Lächeln bedeutete jedoch, dass Raphael eine Klitzekleinigkeit davon entfernt war, seine Messer zu zücken und alles ringsum niederzumetzeln. Natürlich würde er nicht grundlos losschlagen, aber einmal in Fahrt konnte ihn nichts und niemand mehr aufhalten. Das Rudel und das Volk waren die zwei mächtigsten Gruppierungen in Atlanta. Sie hatten die Stadt unter sich aufgeteilt, und jede hielt sich aus dem Territorium der anderen fern, wohl wissend, dass, sollte es je zu einer offenen Auseinandersetzung kommen, diese lang, blutig und vor allem auch sehr kostspielig werden würde. Und der Sieger würde so geschwächt aus ihr hervorgehen, dass ihm vermutlich selbst nicht mehr viel Zeit bliebe.
Aber sosehr sie es auch vermieden, einander zu provozieren, dem Gegner die Zähne zu zeigen galt als durchaus angebracht. Und Raphael wusste, was sich gehörte.
Ein Vampir ließ sich in den Eingang fallen. Er war weiblich und zu Lebzeiten wohl einmal schwarz gewesen. Nun aber hatte die Haut einen merkwürdig violetten Farbton angenommen. Haarlos und abgezehrt, wie aus Zwirn und Dörrfleisch gewirkt, starrte er uns aus hungrigen Augen an. Mit mechanischer Präzision öffnete sich das Maul und die Stimme einer Navigatorin erklang. »Guten Morgen. Ich bin Jessica. Willkommen im Casino. Meister Ghastek lässt sich
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