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Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)

Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)

Titel: Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Nolte
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einem Dasein
ohne Veränderung strebte.
    Sie verstehen vielleicht, wie
ungewöhnlich dieser Entschluss für eine von uns ist. Fast einhundert Jahre lang
behielt ich dieselbe Körperform, denselben Charakter, dieselbe Erinnerung. Ich
konnte zum ersten Mal in meinem Leben Freundschaften schließen, weil die
Personen um mich herum die gleichen blieben, anstatt sich ständig zu
verwandeln. Ich verliebte mich und heiratete. Es war eine intensive,
beglückende Form der Existenz. Am letzten Tag dieses Lebens trieb ich mit
meinem Getrauten am Rand einer Tanginsel.
    Unsere Körper ähnelten schlanken
Luftkissenbooten, sie wurden von einem Polster aus Gasblasen auf der Oberfläche
gehalten. Wenn Sie Archensee besiedeln, werden Sie das tragende Gas bei den
verschiedensten Tierarten wiederfinden. Wie bei der irdischen Evolution haben
sich auch auf meiner Welt viele Arten aus einem gemeinsamen biologischen
Grundmodell entwickelt. Ich nenne meine damalige Spezies ‘Hovercraft’ und mich
selbst ... Witwe. Sie erraten, diese Geschichte hat ein tragisches Ende.
    Ich erinnere mich noch genau an
jeden Augenblick dieses letzten Tages. Mein Geliebter rief mich zu sich, denn
er hatte eine Stelle entdeckt, wo der Tang frische Samenkapseln produzierte,
und wollte mir diese Delikatesse anbieten. Unsere Sprache war eine Mischung aus
Geräuschen und Düften, und als ich näher kam, spürte ich seinen typischen
Namensgeruch: Tre’een, eine sanfte Blaufärbung mit roten Spitzen. Die
Strömungen, die aus dem Eismeer kamen, rochen ebenfalls Tre’een. Ihr hoher
Sauerstoffgehalt wirkte belebend, war erfüllt von einem Gefühl von Kälte,
Klarheit und Abenteuer.
    Tre’een war an diesem Tag in
spielerischer Laune. Ich dachte, er würde mich mit den Samenkapseln füttern,
wie es Eltern mit ihren Kindern tun. Doch er ließ mich mit einer Bewegung
seiner Schwanzflosse ins Leere schwimmen, und wir jagten uns eine Weile an der
Inselkante entlang. Die Körper der Hovercraft liegen halb über und halb unter
dem Wasserspiegel. Sie besitzen zwei Augenreihen, und ich konnte gleichzeitig
den dunklen Rücken und den hellen Bauch meines Partners vor mir sehen. Ich
drängte ihn in ein dichtes Tanggestrüpp, bis er sich darin verhedderte. Habe
ich erwähnt, dass unsere Tierformen verschiedene Geschlechter besaßen? Tre’een
war männlich, und ich schmiegte mich an seinen Körper ... Dann geschah etwas,
das ich erst jetzt und hier, an Bord dieses Schiffes verstanden habe.
    Ein donnerndes Geräusch zerriss
die Luft, ich konnte die Schallwellen wie einen körperlichen Schmerz über meine
Rückenhaut peitschen fühlen. Ich schrie in Sonar, drückte mich tiefer in das
Inseldickicht. Ich konnte nicht nach oben schauen, denn mein Körper war dafür
falsch gebaut. Vergeblich versuchte ich Tre’een zu überreden, dass wir uns
verwandeln und abtauchen sollten. Wir drängten uns im Tang zusammen und
schrieen uns gegen den furchtbaren Lärm unsere Argumente zu. Ich roch seine
Panik und Verwirrung im Wasser, aber er wollte seinen Körper nicht aufgeben,
und wie hätte ich ihn allein zurücklassen können? Ich konnte verstehen, warum
er so störrisch war. Tre’een hatte die Ahnenkolonie der Hovercraft mit
gegründet, er hatte wie wir alle geschworen, mindestens zwei Jahrhunderte
unverändert zu bleiben. Natürlich konnte er diesen Vorsatz nicht aufgeben, nur
weil etwas geschah, das er nicht verstand. Wahrscheinlich glaubten wir nicht
wirklich, dass uns etwas zustoßen könnte. Die Hovercraft haben keine
natürlichen Feinde in der Luft. Und als Ahne ist man daran gewöhnt, unsterblich
zu sein.
    Deshalb reagierte ich viel zu
langsam, als Tre’een angegriffen wurde.
    Ich sah, wie sich blitzartig etwas
in seinen Rücken bohrte. Er bäumte sich auf, und das Gas strömte zischend aus
seinem aufgerissenen Fleisch. Endlich veränderte ich meine Form, um in die Luft
zu stoßen und den Angreifer zu töten. Warum verwandelte Tre’een sich nicht? Der
sterbende Hüllenkörper schien ihn auf grausame Weise festzuhalten. Seine
Materie zerpulverte, und seine Seele lag offen. Dann wurden die Kernzellen nach
oben gesogen, und er war fort. Nur sein furchtbarer Schmerzensschrei hing noch
in der Luft.
    Als ich hoch schaute, hing über
mir ein riesiges schwarzes Gebilde, das die Sonne verdeckte, unbegreiflich und
bedrohlich. Ich reagierte instinktiv und tauchte unter Wasser in Sicherheit.
Stromlinienförmig schoss ich in die Tiefe, bis sich mein Körper in den Meeresgrund
bohrte. Dort lag

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