Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)
ich im Schlamm und verbarg mich lange Zeit. Meine Gedanken drehten
sich im Kreis, ließen mich immer wieder Tre’eens furchtbaren Tod sehen. Ich
brütete dumpf, halb wahnsinnig, bis irgendwann eine Bodenkrabbe mein Versteck
mit ihren Schaufeln aufwühlte. Mechanisch sammelte ich ihre Gene ein und ließ
mein Ich forttreiben, um mich in das simpelste, intelligenzloseste Tier zu
verwandeln, das mir zur Verfügung stand. Ich habe keine Ahnung, wie viele Jahre
ich in diesem Zustand blieb, den Boden durchgrub, keinen Gedanken dachte, nur
auf einfache Reize reagierte, bis mein Tiefenselbst mich wieder weckte. Der
Schmerz war noch immer da, aber er war erträglich genug, um nicht erneut den
Verstand zu verlieren.
Ich habe auf Archensee nie
herausfinden können, was mit Tre’een passiert ist. Ich habe mit anderen Ahnen
gesprochen, und viele von ihnen haben Ähnliches erlebt. Sie sagten einstimmig,
dass es diese Gefahr erst seit kurzer Zeit gibt. Sie sprachen von einer fliegenden
Insel, die sich schneller als der Schall bewegt. Keiner hatte auch nur den
Ansatz einer Erklärung ...
… aber das hat sich jetzt geändert“,
sagte Dschinn mit zurückgeworfenem Kopf, und ihr Rückensegel durchschnitt die
Luft wie ein Rasiermesser. „Ich bin nun ein Mensch und weiß, was eine Maschine
ist. Ich weiß, was ein Walfänger ist.“
Bei diesem Schlüsselwort ging ein
Flüstern durch die Menge. Dschinn loderte in Gelb und Rot wie eine Flamme des
Schmerzes. Sie wusste, dass sie eine Ehrfurcht gebietende Gestalt war. Ihr
Blick glitt zu Lazarus, der in der ersten Reihe saß und ihr wie ein zufriedener
Regisseur zunickte. Er hatte Recht gehabt, sie hätte kein stärkeres Symbol als
den Walfänger finden können, um sich Sympathie zu verschaffen. Mit einem
einzigen Wort hatte sie die Erinnerung an die tote Erde aufgewühlt und sich
selbst in ein Opfer verwandelt, das beschützt werden musste.
Sie konnte die Stimmung im
Amphitheater umschlagen fühlen. Die ganze Zeit hatte unterdrückte Aggression in
den Rängen gebrodelt. Dschinn verkörperte das unheimliche Fremde, die
einheimische Konkurrenz. Die Unsicherheit und Zukunftsangst der Menschen
brauchten einen Angriffspunkt, an dem sie sich entladen konnten, und Dschinn
hatte die Gereiztheit gefühlt wie einen elektrischen Sturm, der über ihre Haut
prickelte. Doch jetzt hatte sie diesen zerstörerischen Impuls in eine andere
Richtung gelenkt: Eine skrupellose, raumfahrende Spezies hatte Archensee vor
den Menschen entdeckt. Man machte ihnen den Planeten streitig! Eine fremde
Macht beutete ihre zukünftige Heimat aus. Alle an Bord aufgestauten Aggressionen
richteten sich nun gegen diesen unbekannten Feind, und Dschinn spielte auf den
Emotionen der Menge wie auf einem Instrument.
Sie bemalte ihren Körper mit
blassen Tönen, und ihre Mädchengestalt wirkte mit einem Mal zerbrechlich und
verloren inmitten des großen Amphitheaters. Ihre Stimme klang leise, doch klar
und singend durch den Raum: „Im Namen meines Volkes bitte ich die hier
Anwesenden um Schutz. Wir werden gejagt, wir werden getötet, ohne den Grund
dafür zu kennen. Die Menschheit kann zu unserem Verbündeten werden und uns vor
der Auslöschung retten. Wir bieten Ihnen Archensee als einen Heimathafen, den
es gemeinsam zu verteidigen gilt. Ihr technologisches Wissen und unsere
biologische Anpassungsfähigkeit können vereint jeder Bedrohung standhalten. Und
hat nicht das Schicksal gezeigt, dass unsere Völker dazu geschaffen sind,
einander zu ergänzen? Ich war allein und in Trauer, doch hier an Bord habe ich
einen Getrauten gefunden, der mich meinen Schmerz über Tre’eens Tod vergessen
lässt.“
Sie lächelte Serail zu, der unter
der plötzlichen Aufmerksamkeit von Tausenden purpurrot wurde. Dann verließ sie
das Rednerpult und setzte sich neben ihn. In der elften Reihe begann jemand stürmisch
zu klatschen – sie erkannte mit leichter Belustigung, dass es Newton war.
Danach fiel der Rest der Versammlung in den Beifall ein. Dschinn schloss
erschöpft die Augen und lehnte sich zurück.
Der erste Schritt war getan. Jetzt
brauchte sie nur noch auf die Umfrageergebnisse zu warten.
Und nebenbei konnte sie sich
endlich um Janus kümmern.
indien/kalkutta/12.C6/prisonprivate
Er schleppte sich durch die
kochendheißen Gassen, die Sonne brannte auf seinen gebeugten Nacken, gelber
Lehmstaub wirbelte unter seinen Füßen auf. Es war Mittagszeit. Kochgeschirr
klapperte in den Innenhöfen, und der intensive Geruch der
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