Die Fünf Tore 1 - Todeskreis
geblieben ist.«
Sie wandte sich von ihm ab und aß ihr Sandwich auf. Dann holte sie eine Landwirtschaftszeitschrift aus der Tasche und begann zu lesen. Es war, als hätte sie ihn vollkommen vergessen.
Die Autobahn nahm kein Ende. Da es draußen nichts zu sehen gab, ließ sich Matt von den vorbeiflitzenden weißen Linien und der endlosen Leitplanke hypnotisieren.
Ohne dass es ihm bewusst war, ging sein Geist auf Wanderschaft. Er schlief nicht, war aber auch nicht ganz wach – es war irgendetwas dazwischen.
Er war wieder in ihrem Haus in Dulwich, einem grünen freundlichen Vorort von London. Dort hatte er mit seinen Eltern gelebt. Es war sechs Jahre her, dass er sie das letzte Mal gesehen hatte, aber jetzt sah er sie wieder vor sich.
Da war seine Mutter, die in der Küche herumwirbelte, der Küche, in der immer Chaos herrschte, sogar, wenn sie gerade aufgeräumt hatte. Sie trug die Sachen, die sie an diesem letzten Tag angehabt hatte: ein rosafarbenes Kleid und eine weiße Leinenjacke.
Immer wenn Matt sich an sie erinnerte, sah er sie so. Es war ein ganz neues Kleid, das sie extra für die Hochzeit gekauft hatte.
Und da war auch sein Vater, der sich in Anzug und Krawatte sichtlich unwohl fühlte. Mark Freeman war Arzt, und wenn er zur Arbeit ging, zog er meistens das an, was er gerade finden konnte – in der Regel waren das Jeans und Pullover … Er trug nicht gern formelle Kleidung. Aber einer seiner Kollegen heiratete, und da ließ es sich nicht vermeiden, schicke Klamotten zu tragen. Nach der Trauung war ein Essen in einem vornehmen Hotel geplant.
Sein Vater saß in der Küche und frühstückte. Er warf sein Haar zurück, wie er es immer tat, und fragte: »Wo ist Matthew?«
Und dann tauchte Matt auf. Damals war er natürlich noch nicht Matt, sondern Matthew. Und jetzt, sechs Jahre später, in einem Bus, der ihn an einen Ort bringen würde, von dem er noch nie gehört hatte, sah Matt sich selbst, wie er damals ausgesehen hatte: ein kleiner, etwas pummeliger Junge mit dunklen Haaren, der in eine leuchtend gelbe Küche kam. Sein Vater saß am Tisch. Seine Mutter hielt die Teekanne in der Hand, die geformt war wie ein Teddybär.
»Beeil dich ein bisschen, Matthew, sonst kommen wir noch zu spät.«
»Ich will da nicht hin.«
»Was? Wovon redest du?«
»Matthew …?«
»Mir geht es nicht gut. Könnt ihr nicht alleine fahren? Ich will da nicht hin.«
Im Bus legte Matt eine Hand über seine Augen. Er wollte sich nicht länger erinnern. Die Erinnerung tat ihm nur weh … jedes Mal.
»Was heißt das, du willst da nicht hin?«
»Bitte, Dad, bitte zwing mich nicht dazu … Ich kann einfach nicht!«
Sie hatten versucht, ihn zu überreden, aber nicht sehr lange. Er war das einzige Kind seiner Eltern, und sie gaben ihm fast immer nach. Sie hatten gedacht, dass ihm die Hochzeit gefallen würde, weil man ihnen gesagt hatte, dass auch andere Kinder dort sein würden und dass es ein Extrazelt mit einem Zauberer und Luftballons geben würde.
Und nun das! Sein Vater löste das Problem innerhalb weniger Minuten mit einem kurzen Anruf. Rosemary Green, ihre nette, immer hilfsbereite Nachbarin, erklärte sich bereit, den Rest des Tages auf Matthew aufzupassen. Seine Eltern fuhren ohne ihn.
Und deswegen war er nicht bei ihnen im Auto gewesen, als sie den Unfall hatten. Deswegen waren sie jetzt tot, und er lebte.
Matt ließ seine Hand fallen und sah hinaus. Der Bus war langsamer geworden. Es ging ihm nicht gut. Ihm war abwechselnd heiß und kalt, und er hatte dumpfe Kopfschmerzen.
»Wir sind da«, sagte Mrs Deverill und stand aus ihrem Sitz auf. »Los, wir müssen aussteigen!«
Sie waren an einem Busbahnhof angekommen, der moderner und kleiner war als der von Victoria. Der Bus hielt, und sie folgten den anderen Fahrgästen hinaus. Draußen war es kälter als in London, aber wenigstens regnete es nicht mehr. Matt ließ sich seinen Koffer geben und folgte Mrs Deverill.
Ein Mann erwartete sie neben einem verbeulten alten Landrover, der aussah, als hielte ihn nur noch der Matsch zusammen, der an ihm klebte. Der Mann war klein und dick, hatte blondes fettiges Haar und ein Gesicht, das ihm langsam, aber sicher vom Kopf zu rutschen drohte. Er trug dreckige Jeans und ein Hemd, das ihm zu klein war. Matt sah, wie es zwischen den Knöpfen aufklaffte. Der Mann war um die vierzig. Er hatte wabbelige Lippen, die sich bei ihrem Anblick zu einem unangenehmen, feuchten Lächeln verzogen.
»Guten Tag, Mrs Deverill«, sagte
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