Die Fünf Tore 1 - Todeskreis
und fuhren wieder ab, überall drängten sich Reisende, und hinter Schaufenstern reihten sich Imbissbuden und Zeitschriftenstände aneinander. Er konnte nicht fassen, dass er hier war. Er war frei … endlich aus der Haft entlassen. Nein, nicht frei, dachte er. Man hatte ihn dieser Frau übergeben, die seine neue Pflegemutter sein sollte.
»Da ist unserer.« Mrs Deverill zeigte auf einen Überlandbus, auf dem York stand.
Matt gab seinen Koffer einem Mann, der ihn in das Gepäckfach schob, dann stieg er ein. Sie hatten Plätze in der hintersten Reihe. Mrs Deverill überließ Matt den Fensterplatz und setzte sich neben ihn. Kurze Zeit später war der Bus voll. Um Punkt ein Uhr schlossen sich die Türen, der Motor wurde gestartet, und die Reise begann.
Matt presste die Stirn an die Scheibe und sah zu, wie sie den Busbahnhof verließen und durch die Straßen von Victoria fuhren. Es regnete immer noch, und die Regentropfen verfolgten einander über das Glas. Mrs Deverill saß mit halb geschlossenen Augen neben ihm und atmete schwer.
Er versuchte, sich zu konzentrieren und herauszufinden, was er fühlte. Doch dabei wurde ihm bewusst, dass er gar nichts fühlte. Er war in das System gesaugt worden. Dort hatte man ihn gewogen, als tauglich für das FED-Programm befunden und wieder ausgespuckt. Wenigstens hatten sie ihn nicht wieder nach Ipswich geschickt. Das war etwas, wofür er dankbar sein konnte. Die sechs Jahre mit Gwenda und Brian waren endlich vorbei. Was vor ihm lag, konnte sicher nicht schlimmer sein.
Zur selben Zeit sperrten zwei Polizeiautos und ein Rettungswagen eine Gasse in Holborn. Dort war ein Toter gefunden worden – ein junger Mann in einem Kapuzenanorak.
Die Spurensicherung war gerade erst eingetroffen, aber schon jetzt wussten die Kriminalbeamten, dass dies einer der bizarrsten Fälle ihrer Laufbahn war. Sie kannten den Toten. Sein Name war Will Scott. Er war ein Drogensüchtiger, auf dessen Konto viele Raubüberfälle gingen. Seine Hand war um ein Küchenmesser gekrallt, und das war es auch, was ihn getötet hatte. Aber niemand hatte ihn angegriffen. Es gab keine Fingerabdrücke. Keine Spuren eines Kampfes, keine Anzeichen, dass auch nur jemand in seine Nähe gekommen war.
Der Mund des Toten war zu einer Grimasse verzerrt, und aus seinen Augen sprach das blanke Entsetzen. Er hielt das Messer fest umklammert.
Will Scott hatte es sich Zentimeter für Zentimeter ins eigene Herz gestoßen. Es war unklar, wie er das gemacht hatte – oder warum –, aber der Pathologe hatte keinen Zweifel.
Aus irgendeinem Grund hatte Will Scott Selbstmord begangen.
DAS HAUS IM WALD
Zwischen London und York lagen über dreihundert Kilometer öder Autobahn, und die Fahrt dauerte mehr als vier Stunden.
Der Bus hielt zweimal an einer Raststätte, aber weder Matt noch Mrs Deverill verließen ihre Plätze. Mrs Deverill hatte Sandwiches mitgebracht, die in braunes Papier eingewickelt waren. Sie holte sie aus ihrer Handtasche und bot Matt davon an.
»Hast du Hunger, Matthew?«
»Nein, danke.«
»Wenn wir erst in Yorkshire sind, erwarte ich, dass du isst, was man dir vorsetzt. In meinem Haus wird kein Essen verschwendet.«
Sie wickelte eines der Päckchen aus, und Matt musste feststellen, dass es zwei Scheiben Weißbrot waren, die mit kalter Leber belegt waren. Jetzt war er froh, dass er abgelehnt hatte.
»Ich nehme an, dass du dich fragst, was du eigentlich von mir halten sollst«, sagte Mrs Deverill und begann zu essen. Sie nahm kleine Bissen und kaute methodisch. Beim Schlucken verzerrte sich ihre Kehle, als fiele es ihr schwer, das Essen hinunterzubekommen. »Falls du es noch nicht mitbekommen haben solltest: Ich bin jetzt dein gesetzlicher Vormund«, fuhr sie fort. »Du bist ein Dieb und ein Taugenichts, und die Regierung hat dich mir anvertraut. Ich bin jedoch bereit, deine Vergangenheit zu vergessen, Matthew. Ich kann dir versichern, dass mir deine Zukunft entschieden mehr am Herzen liegt. Wenn du tust, was ich dir sage, werden wir uns gut vertragen. Aber wenn du dich widersetzt oder mir widersprichst, schwöre ich dir, dass es dir schlechter gehen wird, als du dir vorstellen kannst. Hast du das verstanden?«
»Ja«, sagte Matt.
Ihr Blick bohrte sich in seinen, und er schauderte. »Vergiss nicht, dass sich niemand für dich interessiert. Du hast keine Eltern. Keine Familie. Du bist ungebildet und hast keine Zukunftsaussichten. Ich will ja nicht grausam sein, aber genau genommen bin ich alles, was dir
Weitere Kostenlose Bücher