Die Fünf Tore 1 - Todeskreis
und Seife, aber überwiegend standen dort alte Flaschen. Einige davon waren mit irgendwelchem Pulver gefüllt, andere mit getrockneten Kräutern, in wieder anderen schwammen klumpige Objekte in trübem Wasser. Matt las einige der handschriftlichen Etiketten: Brechnuss, Eisenhut, Wermut. Das sagte ihm nichts. Er entdeckte eine Flasche mit einer gelben Flüssigkeit und drehte sie herum. Fast hätte er aufgeschrien, als ein Auge an die Oberfläche trieb und das Glas berührte. Es musste von einem Schaf oder einer Kuh stammen, und es hingen noch Fetzen der Sehnerven daran. Beinahe hätte Matt sich übergeben. »Kann ich dir helfen?«
Der Apotheker war ein kleiner, rothaariger Mann in einem schmuddeligen weißen Kittel. Seine Haare wuchsen ihm bis in den Nacken herunter, und auch seine Hände waren dicht behaart. Er trug eine dicke schwarze Brille, die sich so tief in seine Nase eingedrückt hatte, dass Matt sich fragte, ob er sie wohl jemals abnahm.
»Was ist das?«, fragte Matt.
»Ein Auge.«
»Was soll das hier?«
Der Apotheker drehte das Glas und betrachtete den Inhalt. Seine eigenen Augen wurden durch die dicken Brillengläser vergrößert wie durch zwei Lupen. »Der Tierarzt wollte es haben«, sagte er gereizt. »Er will Tests damit machen.«
»Ich bin hergekommen, um etwas für Mrs Deverill abzuholen.«
»Ah ja. Dann musst du Matthew sein. Wir haben uns alle schon darauf gefreut, dich kennenzulernen. Wir haben uns sogar sehr darauf gefreut.«
Der Apotheker holte ein kleines Päckchen, das in braunes Papier gewickelt und mit einer Schnur zugeknotet war. »Mein Name ist Barker. Ich hoffe, dich öfter zu sehen. In einem kleinen Dorf wie diesem freut man sich immer über frisches Blut.« Er reichte ihm das Päckchen. »Komm bald mal wieder.«
Als Matt das Geschäft verließ, waren draußen noch mehr Dorfbewohner aufgetaucht. Es waren mindestens ein Dutzend, sie standen in Grüppchen und flüsterten miteinander. Matt eilte zu seinem Fahrrad. Hinter dem Sattel war eine Tasche angebracht, und er stopfte das Päckchen hinein.
Er wollte nur noch weg. Aber das klappte nicht. Als er das Rad wendete, tauchte plötzlich eine Hand auf und packte den Lenker. Matt folgte dem Arm, zu dem sie gehörte, und starrte in das Gesicht eines etwa dreißigjährigen Mannes mit strohblondem Haar und einem runden roten Gesicht. Er trug ein sackartiges Hemd und Jeans. Und er war stark. Das spürte Matt an der Art, wie er das Fahrrad festhielt.
»Lassen Sie los!«
Matt versuchte, das Rad wegzuziehen, aber der Mann hielt es eisern fest.
»Das ist aber nicht sehr freundlich«, sagte er. »Wie heißt du?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Du bist doch Matthew Freeman, oder?«
Matt sagte nichts. Sie hielten immer noch beide das Rad fest. Es war wie eine Trennlinie zwischen ihnen.
»Sie haben dich hergeschickt, damit du dieses Programm machst?«
»Das stimmt. Ja. Wenn Sie das alles wissen – warum fragen Sie dann?«
»Hör mir zu, Matthew Freeman«, flüsterte der Mann eindringlich. »Halte dich von diesem Dorf fern. Du bist in Gefahr. Verstehst du das? Ich dürfte dir das nicht sagen. Aber wenn du weißt, was gut für dich ist, verschwindest du von hier. Geh so weit weg, wie du kannst, und komm nicht zurück. Verstehst du? Du musst – «
Er brach ab. Der Apotheker war aus seinem Laden gekommen und beobachtete sie. Der Mann ließ Matts Fahrrad los und eilte davon. Er sah sich nicht mehr um.
Matt schwang sich aufs Rad und fuhr aus dem Dorf. Vor ihm erhob sich der schwarze, bedrohliche Tannenwald. Zwischen den Bäumen wurde es bereits dunkel.
NÄCHTLICHES FLÜSTERN
Matt stand auf einem Turm aus glänzendem Gestein. Es war mitten in der Nacht, aber er konnte trotzdem gut sehen. Tief unter ihm rollten die Wellen, dick und ölig, wie in Zeitlupe. Die Felsen waren scharfkantig wie Rasiermesser. Die Wellen schienen zu zögern, doch dann stürzten sie sich auf die Felsen und rissen sich an ihnen in Stücke.
Der Wind heulte. Ein Gewitter tobte. Blitze zuckten vom Himmel – aber sie waren nicht weiß, sondern schwarz. Erst jetzt begriff Matt, dass die Welt umgekehrt worden war, als betrachtete man das Negativ eines Fotos.
Weit entfernt sah er vier Menschen, die an einem einsamen grauen Strand standen. Drei Jungen und ein Mädchen, alle ungefähr in seinem Alter. Sie waren so weit weg, dass er ihre Gesichter nicht erkennen konnte, aber irgendwie kannte er sie und wusste, dass sie auf ihn warteten. Er musste zu ihnen, aber es
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